Essen. Neues Fach Wirtschaft/Politik soll Sozialwissenschaften an Schulen ersetzen. Pädagogen sollen sich entsprechend fortbilden

Mit einer neuen Verordnung schickt die Landesregierung knapp 10.000 Lehrkräfte mit dem Fach Sozialwissenschaften in NRW zu Fortbildungen zurück auf die Schulbank. Zugleich müssen die Universitäten ihre Sowi-Studiengänge umstrukturieren. Denn künftig soll das Studienfach „Sozialwissenschaften“ in „Wirtschaft/Politik“ umbenannt werden.

Ziel des FDP-geführten Schulministeriums ist es, das Fach Wirtschaft in den Schulen zu stärken und angehende Lehrkräfte entsprechend auszubilden. Der Hebel für diese Veränderung ist die Lehrerzugangsverordnung, die demnächst Thema im Landtag sein wird. Lehrer, Gewerkschaften, Verbände und auch die betroffenen Universitäten laufen Sturm gegen die Pläne.

Verband fordert Verzicht auf Reform

„Das Schulministerium setzt im Windschatten der Corona-Pandemie sein Vorhaben, ein Monofach Wirtschaft zu etablieren, Schritt für Schritt um“, kritisiert Prof. Bettina Zurstrassen, Vorsitzende des NRW-Landesverbands der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB). Anstelle eines interdisziplinären Studien- und Unterrichtsfachs „Sozialwissenschaften“ solle in der Oberstufe das Fach „Wirtschaft/Politik“ treten. „Eine nachvollziehbare Begründung für die Abschaffung des Fachs gibt es nicht“, schreibt die DVPB in einem „Brandbrief“ an die NRW-Landesregierung, der dieser Redaktion vorliegt.

„Wenn eine stärkere Verankerung der Ökonomie beabsichtigt wird, ist dies schon längst geschehen. Kein anderer Bildungsbereich wurde in den letzten 15 Jahren so massiv ausgebaut wie die ökonomische Bildung“, heißt es in dem Schreiben. Die DVPB fordert die Landesregierung auf, die Reform zu stoppen – „im Interesse unserer Kinder und eines demokratischen Miteinanders“.

Unterricht nur vertretungsweise

Die Sowi-Lehrkräfte sind irritiert, denn offiziell würden sie mit der Umbenennung ihres Faches ihre Lehrbefähigung verlieren. Da frühestens 2026 grundständig ausgebildeten Lehrkräfte für das neue Fach an die Schulen kommen könnten, dürften die Sowi-Lehrer das Fach Wirtschaft/Politik nur vertretungsweise unterrichten.

Es bestehe aber die Möglichkeit, sich in einjährigen Zertifikatskursen entsprechend fortzubilden. Zudem sollten die Universitäten „Erweiterungsstudiengänge“ anbieten, mit denen bereits voll ausgebildete Lehrkräfte und Studierende "eine zusätzliche Befähigung für ein weiteres, künftig neu definiertes Fach -- in diesem Falle das Fach Wirtschaft -- erwerben können", teilt das Schulministerium auf Anfrage mit.

Lehrer und Studierende verunsichert

Die reformierte Lehramtszugangsverordnung stelle sicher, dass künftige Lehrkräfte entsprechend den schulischen Anforderungen ausgebildet werden, heißt es weiter. Gleichwohl sollen die Fortbildungen nicht verpflichtend sein. Zudem behalten die in den nächsten Jahren noch zu erwerbenden Sowi-Abschlüsse ihre Gültigkeit, so das Ministerium: „Bereits ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer haben die nötigen Voraussetzungen, das neue schulische Fach Wirtschafft/Politik fachgerecht zu unterrichten.“

Was denn nun? Fachgerecht unterrichten und dennoch ohne Lehrbefähigung für das neue Fach? Auch Ökonomie-Professoren halten diese Regelung für widersprüchlich. Sie sei eine Zumutung für alle Lehrkräfte, die seit vielen Jahren sozialwissenschaftliche Themen unterrichten und denen nun aufgrund minimaler Änderungen der Inhalte und einem neuen Etikett für das Fach die Lehrbefähigung abgesprochen werde. Zudem verunsichere die Reform Studierende, die gerade ihr Studium der Sozialwissenschaften begonnen haben. Sie müssten sich in einigen Jahren der Konkurrenz formal vermeintlich besser qualifizierten Wirtschaft-Politik-Absolventen ausgesetzt sehen, obwohl sich die Studiengänge kaum unterscheiden dürften, so die Kritik.

Vorwurf: Landesregierung betreibt reine "Etikettenpolitik"

Schon jetzt beinhalte das Sowi-Studium zu gleichen Teilen die Bereiche Ökonomie, Politik und Sozialwissenschaften. Große Universitäten wie Bochum, Bielefeld und Münster wiesen daher die Pläne des Landes als unbegründet zurück. Die schwarz-gelbe Landesregierung solle sich selbstkritisch fragen, ob die angedachte Reform notwendig und sinnvoll ist und aus welchen Motiven man sie eigentlich unternimmt, heißt es an den Unis.

Die Frage nach dem Zweck der Reform lässt auch den Münsteraner Erziehungswissenschaftler Hans-Joachim von Olberg rätseln. „Nach meiner Auffassung betreibt die Landesregierung hier reine Etiketten-Politik.“ Inhaltlich verändere sich wenig, aber aktive Lehrkräfte sowie Studierende würden unnötig verunsichert.

Keine größeren Defizite in Ökonomie

Ausgebildete Lehrer wieder in Fortbildungen zu schicken, sei „absurd“, findet Olberg. „Die Schüler haben keine größeren Defizite in ökonomischem Wissen, sondern mindestens ebenso ausgeprägt in den Themenbereichen von Politik und Gesellschaft.“ Gerade in Zeiten von Populismus, Radikalisierung und schwindender Akzeptanz der politischen Institutionen sei dies bedenklich.

Ähnlich argumentiert der Essener Sozialökonom Till van Treeck: Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen ließen sich nicht mit einem ökonomischen Instrumentenkasten allein bearbeiten. „Ökonomie und Sozialwissenschaften müssen stärker zusammengehen, auch in der Wissenschaft. Etwa bei der Frage: Wie wirtschaften wir in Zukunft angesichts des Klimawandels? Welche sozialen Folgen hat das?“ Das müsste ausgebaut werden, auch an den Schulen. Warum ein eigenes Fach Wirtschaft?