Essen. Schulministerin habe ihre Kritik ignoriert, kritisieren Elternverbände und Wissenschaftler. Das Fach sei ökonomisch einseitig und unpolitisch.
Der Streit um das neue Schulfach Wirtschaft flammt erneut auf. In einem offenen Brief an NRW-Schulministerin Yvonne Genauer (FDP) kritisieren vier Verbände eine „einseitige ökonomische Bildung“ auf Kosten von politischen Themen und drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen wie Klimakrise und Rechtspopulismus.
In den jüngst für das Schuljahr 2019/20 vom Bildungsministerium vorgestellten Kernlehrplänen für Wirtschaft und Politik in der Sekundarstufe I an Gymnasien sei die Kritik von Eltern- und Fachverbänden nicht berücksichtigt worden, kritisiert die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW. Unterzeichnet wurde der Brief zudem von der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB), der Gesellschaft für Bildung und Wissen sowie von der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung. Sie werfen der Ministerin vor, demokratische Gepflogenheiten missachtet zu haben, da sie die „konstruktiven Vorschläge“ der beteiligten Verbände ignoriert habe.
Schulministerium: Alle Einwände wurden geprüft
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„Wir sind irritiert und verärgert über den Verlauf der Verbändeanhörung“, sagt Prof. Bettina Zurstrassen der WAZ. Die Bielefelder Sozialwissenschaftlerin ist NRW-Vorsitzende der DVPB, der an den Anhörungen teilgenommen hatte. Kritische Einwände zum Lehrplan seien vom zuständigen Staatssekretär als „oberflächlich und nicht zielführend“ abgekanzelt worden. „Das zeugt von einer großen Missachtung, zumindest Arroganz gegenüber demokratisch-partizipativen Verfahren“, so Zurstrassen. Laut Schulgesetz ist das Ministerium verpflichtet, auch bei Richtlinien und Lehrplänen Verbände und Organisationen zu beteiligen.
Das Ministerium weist die Vorwürfe zurück. Das Schulministerium habe im Laufe des Verfahrens eine Vielzahl, teilweise widersprüchlicher Rückmeldungen erhalten. „Alle Rückmeldungen wurden sorgsam geprüft und fachlich abgewogen“, teilt das Schulministerium mit. „Im Ergebnis hat das zu durchaus noch substanziellen Änderungen geführt.“
Kritik: Einseitige Ausrichtung des Stoffs
Konkret kritisieren die Fach- und Elternverbände die einseitige Ausrichtung des Unterrichtsstoffs auf Unternehmertum und Verbraucherbildung. In der Fokussierung auf nur eine wirtschaftswissenschaftliche Perspektive („neoklassische Theorie“) verstoße der Lehrplan gegen das „Kontroversitätsgebot“, wonach Schüler auch mit anderslautenden Thesen bekannt gemacht werden sollten. Alternative Perspektiven würden den Schülern vorenthalten, weshalb der Lehrplan nicht den „wissenschaftlichen Diskussionsstand“ abbilde. Zurstrassen: „Das Leitbild des Unternehmerischen zieht sich durch den Lehrplan. Das Leitbild des demokratischen Bürgers verblasst dagegen.“
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Bereits vor rund zwei Jahren hatte die schwarz-gelbe Regierungskoalition ihre Pläne für ein Schulfach Wirtschaft präsentiert. Dafür bekam die Koalition viel Lob von den Unternehmern und heftige Kritik von Lehrern, Eltern und Bildungswissenschaftlern. Mit den neuen Lehrplänen für das neue G9 flammte die Debatte wieder auf.
Eine Stunde mehr für Geschichte
„Wir plädieren für einen Unterricht, der Wirtschaft aus verschiedenen Perspektiven betrachtet“, sagt der Sozialwissenschaftler Marcel Bayer vom DVPB. Die Frage sei doch: „Wie wollen wir Wirtschaft gestalten?“ Fragen der Nachhaltigkeit, der Verteilung von Reichtum und Wohlstand, der Balance von Ökonomie und Ökologie oder der Klimagerechtigkeit kämen zu kurz.
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Nach Ansicht des Schulministeriums ist der Lehrplan ausgewogen. Er berücksichtige unterschiedliche Theorien ebenso wie kontroverse gesellschaftliche Positionen. Durch die Ausweitung der Unterrichtszeit für das Fach Wirtschaft-Politik von sechs auf mindestens acht Stunden konnte der Teil Wirtschaft gestärkt worden, ohne den Teil Politik zu verringern, betont das Ministerium. Es verweist zudem darauf, dass auch das Fach Geschichte nun eine Stunde mehr unterrichtet werde. Dies trage zur historisch-politischen Bildung bei.
Keine Zeit für Klimawandel und Rechtsextremismus?
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Dennoch kritisieren die Unterzeichner des offenen Briefes, dass politisch relevante Themen im Lehrplan an den Rand gerückt seien: „Drängende gesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimakrise, ein sich vertiefender Rechtspopulismus und -extremismus werden unzureichend berücksichtigt“, heißt es in dem Brief an die Ministerin. Statt dessen sollten sich die Schüler in der Mittelstufe mit betriebswirtschaftlichen Fragen wie „Beschaffung, Produktion und Absatz im betrieblichen Handeln“ auseinandersetzen. Im Kernlehrplan „Wirtschaft-Politik“ würden insgesamt politische und gesellschaftliche Inhalte zugunsten ökonomischer Themen reduziert. Das erschwere massiv die politische Orientierung der Schüler.
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„Die Landesregierung hat die Chance vertan, die Diskussion des Kernlehrplans zu nutzen, um eine breite gesellschaftliche Debatte über die Bedeutung der Demokratie, über Normen und Werte des Zusammenlebens zu führen“, kritisieren die Verbände. „Wir erwarten und fordern eine starke Verankerung der politischen Bildung in den Lehrplänen“, sagt Zurstrassen. „Gegenwärtig wird sie in NRW kannibalisiert.“ Die Verbände hoffen, dass die Ministerin zu weiteren Gesprächen bereit ist.
>>>> Studie: Viel Zeit für ökonomische Bildung
Eine Studie der Uni Bielefeld zeigt, dass an den Schulen in NRW die ökonomische Bildung bereits vor der Änderung der Lehrpläne breiten Raum im Unterricht einnahm. Danach schwankt innerhalb des Themenbereichs Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Anteil von Politik zwischen 20 und 28 Prozent der Unterrichtszeit in diesem Bereich. Dagegen machen ökonomische Inhalte je nach Schulform zwischen 56 und 69 Prozent aus.
Die Studie wies darauf hin, dass die ökonomische Bildung auch bei vielen außerschulischen Angeboten, die für Schüler verpflichtend sind, eine große Rolle spiele. Dazu zählen die Berufsorientierung bei der Arbeitsagentur, Potenzialanalysen für Achtklässler sowie ein mehrwöchiges Betriebspraktikum. Vergleichbare Angebote gebe es im Bereich Politik und Soziales nicht.