Essen. . Im Streit um das neue Schulfach Wirtschaft in NRW zeigt eine Studie, dass schon jetzt ökonomische Themen mehr Raum einnehmen als politische

Die Debatte um die Einführung eines Fachs Wirtschaft an den Schulen in NRW ebbt nicht ab. Zuletzt hatten sich gleich fünf NRW-Elternverbände gegen die Pläne der schwarz-gelben Landesregierung gestellt. Gewerkschaften und Bildungsexperten wissen sie dabei hinter sich. Wirtschafts- und Unternehmerverbände begrüßen indes das Vorhaben, seit Jahren komme die ökonomische Bildung an Schulen zu kurz.

So sieht das offenbar auch FDP-Schulministerin Yvonne Gebauer: Ab dem Schuljahr 2020/21 will sie an weiterführenden Schulen Wirtschaft zum Pflichtfach machen – Gymnasien sollen im Zuge der Umstellung auf G9 ein Jahr früher dran sein.

Prof. Dr. Reinhold Hedke von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld kritisiert den geringen Politik-Anteil auf dem NRW-Stundenplan: „Mit Blick auf wachsende Demokratieferne und die Zunahme von sozialer Ausgrenzung und Fremdenhass ist das eine inakzeptable Form der Politikverweigerung.“
Prof. Dr. Reinhold Hedke von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld kritisiert den geringen Politik-Anteil auf dem NRW-Stundenplan: „Mit Blick auf wachsende Demokratieferne und die Zunahme von sozialer Ausgrenzung und Fremdenhass ist das eine inakzeptable Form der Politikverweigerung.“

Mitten in die Debatte platzt jetzt eine Studie der Uni Bielefeld. Sie belegt, dass an den Schulen in NRW die ökonomische Bildung keineswegs zu kurz komme. Sie nehme im Gegenteil „eine dominierende Position“ in der Lernzeit der Schüler ein. Eine Umstellung sei somit weder nötig noch mit Fakten zu begründen.

Wirtschaft nimmt viel Zeit an Schulen ein

Die Sozialwissenschaftler Prof. Reinhold Hedtke und Mahir Gökbudak haben sich die Lehrpläne und Stundentafeln der Sekundarstufe I vorgenommen und durchgerechnet, wie sich die Lernzeit für Wirtschaft, Politik und Sozialkunde an allgemeinbildenden Schulen für die Klassen fünf bis zehn aufteilt. Das Ergebnis: Für ökonomische Themen ist weitaus mehr Zeit vorgesehen als für politische und gesellschaftliche. „Es hat uns schon überrascht, dass auf ökonomische Themen bis zu dreimal mehr Lernzeit entfällt als auf politische Themen“, sagt Gökbudak.

So viele Minuten in der Woche werden Schüler in NRW in den Bereichen Wirtschaft und Politik unterrichtet.
So viele Minuten in der Woche werden Schüler in NRW in den Bereichen Wirtschaft und Politik unterrichtet. © Miriam Fischer

Innerhalb des Themenbereichs Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schwankt nach Auswertung der Forscher der Anteil von Politik zwischen 20 und 28 Prozent. Dagegen machen ökonomische Inhalte je nach Schulform zwischen 56 und 69 Prozent der Unterrichtszeit in diesem Bereich aus. Weit abgeschlagen liegen gesellschaftliche Themen mit elf bis 18 Prozent, erklärt Hedtke. Spitzenreiter bei den Wirtschaftsanteilen seien übrigens die Gesamtschulen mit 69 Prozent.

Außerschulische Angebote fehlen

Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die ökonomische Bildung auch bei vielen außerschulische Angeboten, die für die Schüler verpflichtend sind, eine große Rolle spielt. Dazu zählen die Berufsorientierung bei der Arbeitsagentur, Potenzialanalysen für Achtklässler und ein mehrwöchiges Betriebspraktikum. Dafür stehen mindestens dreieinhalb Schulwochen zur Verfügung.

Solche Angebote gibt es bei Politik und Sozialem nicht. Von einem „bedenklichen“ Befund spricht Hedtke: „Mit Blick auf wachsende Demokratieferne und die Zunahme von sozialer Ausgrenzung und Fremdenhass ist das eine inakzeptable Form der Politikverweigerung.“

EU-Vergleich zeigt Wissenslücken

Während also die Ökonomie an Schulen laut der Studie bereits breiten Raum einnimmt, liegt die politische Bildung im Argen. Dies hat jüngst eine Studie beleuchtet, die das politische Wissen der 14-Jährigen in NRW mit 23 Schulsystemen in Europa verglichen hat. Danach verfügen hiesige Schüler über deutlich weniger Wissen über politische Zusammenhänge als ihre Altersgenossen in Europa, ergab die internationale Vergleichsstudie „International Civic and Citizenship Education Study“ (ICCS), für die in NRW knapp 1500 Schüler befragt wurden.

Im Zentrum stand die Frage, wie gut die Schule Jugendliche auf ihre Rolle als Bürger in einer Demokratie vorbereitet, erläuterte Prof. Hermann Josef Abs, Bildungswissenschaftler an der Uni Duisburg-Essen und Leiter der Untersuchung. In dem mangelnden Wissen und der schwachen Bereitschaft zu politischem Engagement oder an Wahlen teilzunehmen, sieht er auf lange Sicht eine „Gefahr für die Demokratie“. Er ist überzeugt: „Schule kann mehr leisten, das zeigt der internationale Vergleich.“ Demokratiebildung müsse ab Klasse fünf bis zum Schulabschluss in allen Schulformen wesentlicher Teil des Unterrichts sein, so Abs. Auch deshalb riet Dirk Lange, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung, der Landesregierung bereits, „ihr Vorhaben noch einmal genau zu durchdenken“.