Essen. Ab nächstem Schuljahr soll Englisch in den NRW-Grundschulen nicht mehr ab Klasse 1 unterrichtet werden. Fachleute halten das für falsch.
Als NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) im August den lange erwarteten „Masterplan Grundschule“ vorstellte, sorgte eine zentrale Änderung bei den ansonsten so reaktionsschnellen Elternverbänden und Gewerkschaften nur für leise Kritik. Danach soll Englisch nicht mehr wie bisher ab der ersten Klasse unterrichtet werden, sondern mit dem kommenden Schuljahr wieder ab dem dritten Schuljahr. Zugleich soll die Stundenzahl von zwei auf drei pro Woche erhöht werden. Doch offenbar geht die Reduzierung des Fremdsprachunterrichts doch nicht so geräuschlos vonstatten wie gedacht.
Eine Vielzahl von Fachleuten meldet sich jetzt zu Wort und fordert von der Landesregierung in einem von mehr als drei Dutzend Professorinnen und Professoren der Fremdsprachendidaktik unterzeichneten Positionspapier die Rücknahme der Entscheidung. Zentrale Begründung: „In einer digitalen, globalen Welt werden Englischkenntnisse immer wichtiger und sollten so früh wie möglich gefördert werden.“ Den Vorwurf, dieser massive Einwand komme reichlich spät, weisen die Initiatoren des Papiers zurück: „Wir sind seit drei Jahren aktiv, aber unsere Einwände wurden nicht berücksichtigt“, sagt Julia Reckermann, Juniorprofessorin für Didaktik der englischen Sprache an der Uni Münster und Koordinatorin der Aktion, dieser Redaktion.
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Schlingerkurs beim Thema Englisch an Grundschulen
Beim Thema Englisch-Unterricht an Grundschulen fährt das Land seit vielen Jahren einen Schlingerkurs. Ab 2003 wurde das Fach in den Klassen 3 und 4 unterrichtet. Dann wurde der Unterricht von der damaligen schwarz-gelben Landesregierung ab 2008 auf die Klassen 1 und 2 ausgeweitet. Jetzt entschied sich Schwarz-Gelb für eine Rolle rückwärts: Englisch soll ab dem Schuljahr 2021/2022 wieder erst ab der dritten Klasse unterrichtet werden. Begründung der Politik: „Mehr Lernerfolg für die Kinder“. Denn in den ersten beiden Klassen werde im Gegenzug mehr Gewicht auf Lesen, Schreiben und Rechnen gelegt.
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Diese Argumentation lassen die Experten nicht gelten: „Es gibt keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass durch einen späteren Beginn des Englischunterrichts die Deutsch- und Mathematikleistung verbessert werden kann“, heißt es in dem Schreiben der Experten, das dieser Redaktion vorliegt. Julia Reckermann erklärt: „Ich war vor meiner wissenschaftlichen Tätigkeit selbst Englischlehrerin an einer Grundschule. Ich habe gesehen, mit wie viel Spaß und Motivation die Kinder Englisch lernen und welche Fähigkeiten sie nach der vierten Klasse haben, wenn der Unterricht gut war.“
"Englisch gehört zur Kernkompetenz"
Diese Offenheit und Begeisterung müsse man so früh wie möglich fördern, findet sie. Englisch sei mittlerweile ein fester Bestandteil der Lebenswelt junger Menschen. Die Sprache begegne ihnen in der Werbung, in den Medien, beim Spiel. Und im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung seien Englischkenntnisse eine fundamentale Voraussetzung.
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„Für mich gehört Englisch heute zur Kernkompetenz, genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen“, so Juniorprofessorin Reckermann. „Wir können es uns nicht leisten, damit erst in der dritten Klasse zu beginnen.“ Studien zeigten, dass die Leistungen von Kindern fundierter sind, wenn sie nicht erst in der dritten, sondern von Beginn an Englischunterricht erhalten haben. Aus pädagogischer Sicht mache eine erneute Änderung keinen Sinn, sie trage überdies ausgerechnet in diesen schwierigen Zeiten neue Unruhe in die durch Corona belasteten Schulen.
Manche Kinder müssen zunächst Deutsch lernen
In ihrer Stellungnahme fordern die Fremdsprachenforscher die Rücknahme der Entscheidung sowie bundesweite Lernstandards für den Englisch-Unterricht an den Grundschulen, um den Übergang an die weiterführenden Schulen reibungsloser zu gestalten. Denn die Erwartungen an den Kenntnisstand der Schüler seien dort sehr unterschiedlich. Von „vergesst alles, was ihr an der Grundschule gelernt habt“ bis „Eigentlich solltet ihr viel mehr können nach dreieinhalb Jahren Englisch“ reichten die Reaktionen der Fachlehrer in der Klasse 5. „Es stimmt leider, dass in den Englischstunden an einigen Grundschulen mehr gespielt und gesungen wird“, sagt Reckermann. „Das ist zu wenig.“
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Grundschullehrer an Schulen in sozial schwierigen Vierteln verweisen indes darauf, dass viele zugewanderte Kinder zunächst einmal Deutsch als Fremdsprache erlernen müssten. Eine weitere Fremdsprache ab der ersten Klasse würde sie überfordern. Umgekehrt werde ein Schuh daraus, argumentiert Julia Reckermann: „In diesem Fach haben alle Kinder die gleiche Ausgangslage. Englisch ist das Fach, in dem auch Kinder aus Familien mit geringen Deutschkenntnissen Erfolgserlebnisse haben können.“ Es sei falsch, ihnen diese Chancen zu nehmen.
Fachleute fordern Stärkung des Fachs Englisch
„Was der Masterplan Grundschule vorsieht, ist erneut ein Aufbruch ins Ungewisse ohne dass dafür eine wissenschaftlich erwiesene Notwendigkeit bestünde“, kritisieren die Fachleute in der vierseitigen Stellungnahme an das Schulministerium. Zudem lasse die Politik wichtige Aspekte aus Forschung und Praxis „zu unserem Erstaunen“ unberücksichtigt.
Anstatt den Englisch-Unterricht auf zwei Schuljahre einzudampfen, fordern die Experten eine Stärkung des Fachs. Julia Reckermann: „Wir wünschen uns, dass der Englisch-Unterricht wie gehabt in der ersten Klasse beginnt -- die Erhöhung auf drei Stunden in der Woche darf aber gerne bestehen bleiben."
>>>> Kritik der GEW
In einer Stellungnahme zum „Masterplan Grundschule“ kritisierte die Bildungsgewerkschaft GEW in NRW die Verlegung des Englisch-Unterrichts an Grundschulen. Diese Entscheidung sei nicht „vom Kind her entwickelt worden“.
Es gehe eher darum, Didaktik und Methodik des Faches an den Sprachunterricht in der Sekundarstufe I anzupassen. Der spielerische Umgang mit Sprache in den ersten zwei Schuljahren werde damit aufgegeben.