Düsseldorf. Distanzunterricht schadet vielen Kindern, warnt NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) im Interview mit dieser Redaktion.

NRW hält in der Pandemie eisern am Präsenzunterricht fest. Städten wird verboten, die Klassen aller Schulen vier Wochen lang zu teilen und die Hälfte der Kinder nach Hause zu schicken. Einzelne Schulen aber könnten Distanzunterricht einführen, „nachdem sie alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft haben“, sagte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) im Interview mit dieser Redaktion.

Frau Gebauer, Solingen wehrt sich gegen das Verbot, Schulklassen zu teilen und empfindet Ihr Vorgehen als Maßregelung. Haben Sie kein schlechtes Gewissen?

Gebauer: Die Landesregierung hat nicht gegen Solingen entschieden, sondern für Präsenzunterricht – und damit für die Bildungsgerechtigkeit für alle Schülerinnen und Schüler. Ich würde mich freuen, wenn dies auch in Solingen so gesehen wird und die Stadt mit uns gemeinsam nach zielgerichteten Lösungen für die einzelnen Schulen sucht.

Wie denn?

Gebauer: Der Instrumentenkasten, den wir den Schulen gegeben haben, ist gut gefüllt. Dazu gehört zum Beispiel ein entzerrter Unterrichtsbeginn, wie ihn die Stadt Herne jetzt einrichtet. Dazu gehört, dass Spielräume in der Stundentafel genutzt werden können. Und dazu gehört auch ein klarer rechtlicher Rahmen für den Distanzunterricht: Schulen können ihn einrichten und machen das teilweise auch schon, wenn nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten kein Präsenzunterricht für alle Schülerinnen und Schüler möglich ist, weil etwa Lehrkräfte fehlen. Dabei haben wir ganz klar geregelt, welche Jahrgänge zuletzt aus dem Präsenzunterricht genommen werden sollten.


Welche Jahrgänge sind das?

Gebauer: Zum Beispiel die Eingangs- sowie die Abschlussklassen sollen im Fall der Fälle vorrangig im Präsenzunterricht bleiben.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) empfiehlt eine Teilung von Schulklassen ab einem Inzidenzwert von über 50. In Solingen und anderen NRW-Städten ist der Wert viermal höher. Wie können Sie da eine Kommune maßregeln, die Schulen schützen will?

Gebauer: Wir folgen grundsätzlich den RKI-Empfehlungen zur Einhaltung von Hygiene und Infektionsschutz. In der Verantwortung als zuständige Ministerin für Schule müssen Sie zusätzlich zum Infektionsschutz aber immer auch weitere Perspektiven, zum Beispiel die der Pädagogik, im Blick haben, abwägen und bestmöglich miteinander in Einklang bringen. Alle Länder sind sich darüber grundsätzlich einig: Die pauschale Teilung von Klassen kann nur ein letzter Weg sein. Die weitüberwiegende Mehrheit will im Interesse der Schülerinnen und Schüler den Präsenzunterricht so lange wie möglich aufrechterhalten. Es geht neben dem Infektionsschutz auch um weitere wichtige Aspekte.

Um was noch?

Gebauer: Um das Recht aller Kinder auf gute Bildung und um das Kindeswohl. Wir wissen ja, was im Frühjahr passiert ist: Viele Kinder konnten daheim nicht gut lernen. Kinderärzte bestätigen, dass der Lockdown vielen Kindern nicht gut getan und sie in ihrer Entwicklung zurückgeworfen hat. Schulpsychologen haben deutlich mehr Fälle als vorher. Wenn wir eine Hälfte der Schülerinnen und Schüler pauschal nach Hause schicken, dann schafft das mehr Probleme, als wir damit lösen.

Haben Sie einen anderen Schwellenwert als 50, ab wann Schulen in den Lockdown geschickt werden?

Gebauer: Nein, den hat kein Bundesland. Wir müssen das Infektionsgeschehen an den einzelnen Schulen betrachten. Vor Ort entscheiden die Schulleiter, welche Instrumente zum Einsatz kommen. Dabei werden sie von der Schulaufsicht unterstützt und beraten. In Ausnahmefällen, wenn zum Beispiel nicht genügend Lehrpersonal da ist, wäre auch eine Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht vorübergehend möglich. Dafür haben wir als einziges Bundesland sogar schon einen Rechtsrahmen.

Aber in Solingen wollen dies viele Schulleiter...

Gebauer: Einzelne Schulen können Entscheidungen zu Distanzunterricht treffen, nachdem sie alle anderen Maßnahmen ausgeschöpft haben. Aber die Stadt Solingen als Schulträger darf nicht flächendeckend die Klassen aller Schulen vier Wochen lang teilen und die Hälfte der Kinder und Jugendlichen nach Hause schicken.

Seit Monaten fordern Opposition und Lehrerverbände mehr Räume für die Teilung von Klassen. Warum schaffen Sie nicht Platz?

Gebauer: Wenn wir die Klassen teilen, bräuchten wir 195.000 zusätzliche Räume, und diese müssten nicht wir, sondern die Schulträger schaffen.

Sie hatten Zeit dafür. Warum haben Sie es nicht einmal versucht?

Gebauer: In vielen Gesprächen mit Schulleitungen, Lehrerverbänden und weiteren Akteuren ist deutlich geworden: Der Vorschlag ist nicht realistisch. Die Schulträger winken ab.

Viele Lehrer-, Eltern- und Schulleiterverbände sind seit Monaten wütend auf Sie. Ist das noch zu reparieren?

Gebauer: Alle Kultusminister der Länder spüren derzeit diesen Unmut. Wir wünschen uns in diesen Zeiten der Pandemie mehr Gemeinsamkeit mit Gewerkschaften und Verbänden, mit denen wir ja in einem ständigen Austausch stehen. Kritik gehört dazu, sie sollte aber konstruktiv sein. Es gibt keine Blaupause für diese Pandemie, aber ich kann Ihnen versichern: Wir handeln alle nach bestem Wissen und Gewissen. Als Schul- und Bildungsministerin ist es meine Aufgabe, dem Infektionsschutz und dem Recht auf Bildung gleichermaßen gerecht zu werden. Und die überwiegende Zahl von Eltern, Schülerinnen und Schülern ist dankbar, dass wir alles tun, um die Schulen offen zu halten.

Die Opposition und Gewerkschaften fordern einen Schulgipfel für NRW. Wird es den geben?

Gebauer: Wir führen laufend Gespräche mit allen Akteuren aus dem Schulbereich. Zuletzt haben wir uns am Mittwoch in der Kultusministerkonferenz intensiv mit Schüler-, Lehrer und Elternvertretern ausgetauscht. Ich verwehre mich nicht der Diskussion, aber ich glaube nicht, dass ein medienwirksam inszenierter Gipfel zielführend ist, bei dem diejenigen, die ihn fordern, keinen einzigen umsetzbaren Vorschlag mitbringen.

Viele Eltern sind in Sorge, weil ihre Kinder im Lockdown nicht alles lernen konnten, was sie für Prüfungen brauchen. Gibt es in NRW Überlegungen, den Umfang des Lernstoffs wegen Corona zu reduzieren?

Gebauer: Es ist verständlich, dass Eltern, Schülerinnen und Schüler sich Sorgen machen. Wir prüfen sehr genau, wo wir Schüler sowohl und unterstützen als auch entlasten könnten, und handeln auch danach. Mit vielen Millionen Euro fördert das Land außerschulische Bildungsangebote, damit Schülerinnen und Schüler etwaige Defizite aufarbeiten können. Entscheidend ist aber auch, dass wir uns länderübergreifend abstimmen, damit die Abschlüsse vergleichbar bleiben. Dazu führe ich intensive Gespräche mit den anderen Kultusministern. In NRW haben wir bereits beschlossen, für die Prüfungen zum Schuljahresende zusätzlich zwei Wochen Lernzeit zur Verfügung zu stellen.

Planen Sie Erleichterungen für die Abiturprüfungen?

Wir wollen nicht die Ansprüche reduzieren, sondern bei den Abituraufgaben die Auswahlmöglichkeiten erweitern. Damit nehmen wir Rücksicht auf den tatsächlich erteilten Unterricht und sichern zugleich die Bildungsqualität. Das ist auch im Interesse der Schülerinnen und Schüler, die 2021 einen gleichwertigen Abschluss erwerben wollen, wie die Jahrgänge vor ihnen.

Trotz der Landesförderung für 1000 zusätzliche Busse sind viele Schulbusse überfüllt. Woran liegt das?

Gebauer: Das müsste meines Erachtens nicht so sein. Viele Touristik-Busunternehmen haben aufgrund der Pandemie derzeit nur wenige Fahrten. Es gibt also Busse, Fahrer, und das Land stellt bis zu den Weihnachtsferien zusätzliches Geld im Umfang von insgesamt 13,5 Millionen Euro bereit. Ich wünsche mir, dass dieses Angebot mehr genutzt wird, um den Schülerverkehr in den Stoßzeiten zu entzerren.