Essen. Wissenschaftler sehen wachsende Stimmung in der Bevölkerung, von der sich rechtsextreme Täter ermutigt fühlten. Zahl der Gewaltopfer wohl höher.
Nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) warnen Extremismusforscher vor weiteren Gewalttaten. Der Mord an Lübcke sei die extreme Spitze einer Entwicklung, die sich fortsetzen könne, sind Kriminologen überzeugt. Die Fremdenfeindlichkeit sei nach 2015 weiter gewachsen. „Es gibt eine wachsende Stimmung in der Bevölkerung, die von nationaler Identität spricht, von Widerstand und Kontrolle, die man wieder in die eigene Hand nehmen müsse“, sagte der Bielefelder Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick. „Diese Selbstermächtigung besorgt mich sehr.“ Daher könnten weitere Taten folgen. „Die Gefahr weiterer rechtsterroristischer Anschläge ist hoch“, sagte der Düsseldorfer Rechtsextremismus-Experte Hajo Funke dem Spiegel.
Rechtsextreme Täter fühlen sich bestärkt
Der Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Matthias Quent, warnte vor dem Hintergrund des Mordes vor einer weiter steigenden Gefahr von rechts. Die Grenzen zwischen Rechtspopulismus und militanten Gruppen würden mehr und mehr verwischen. Rechtsextreme Täter fühlten sich bestärkt durch die Erfolge der AfD und legitimiert als diejenigen, die nur die Stimmung in der Bevölkerung in die Tat umsetzten.
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Der Dortmunder Politikwissenschaftler Dierk Borstel spricht von einem bundesweiten Netzwerk von Rechtsextremen, die eng miteinander verknüpft seien. Die Wissenschaftler sind sich einig darin, dass rechtsextreme Gewalt von der Öffentlichkeit und den Sicherheitsbehörden unterschätzt wurde. Es gebe einen stabilen Sockel von rechtsextremen Einstellungen in der Bevölkerung, doch die Politik habe darauf nicht angemessen reagiert, die wissenschaftlichen Befunde sogar infrage gestellt. Mit AfD, Pegida und anderen Formationen habe sich in den letzten Jahren „eine rassistische Massenbewegung“ organisiert, auf die die Gesellschaft noch keine überzeugende Antwort gefunden habe, so die Forscher. Funke mahnte nun ein konsequentes Handeln der Sicherheitskräfte an. Denn überall dort, wo die Polizei nicht durchgreife oder der Innenminister laviere, würden sich Rechtsextreme ausbreiten.
Zahl der Gewalttaten bleibt auf hohem Niveau
Laut Verfassungsschutzbericht gibt es etwa 24.000 Rechtsextreme in Deutschland, Tendenz steigend. Mehr als die Hälfte von ihnen gilt als gewaltorientiert. Gut 12.000 waren demnach in Parteien oder parteiunabhängigen Strukturen, zum Beispiel den „Identitären“, organisiert. 2018 wurden bundesweit 20.431 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten registriert, darunter 1156 Gewaltdelikte. Die Zahl der Körperverletzungen stieg im Vergleich zum Jahr 2017 von 961 auf 1000 an. Dagegen ging die Zahl der Brandstiftungen deutlich zurück. Insgesamt bleibe die Zahl rechter Gewalttaten aber auf hohem Niveau, so die Behörde.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015 registrierten die Ermittler mit 22.960 Fällen einen bis dahin nie erreichten Höchststand rechtsextremer Straf- und Gewalttaten in Deutschland. Dieser traurige Rekord wurde 2016 mit 23.555 Taten erneut gebrochen. Seither sanken die Zahlen wieder, doch die Verfassungsschützer mahnen, dass dieser Trend „nicht über das anhaltend hohe Gefährdungspotenzial hinwegtäuschen“ dürfe.
Forscher: Zahl der Opfer ist weit höher als angenommen
Nach Ansicht des Bochumer Kriminologen Tobias Singelnstein dürfte die Realität weit schlimmer sein, als es die offizielle Statistik abbildet. „Die Zahl der Opfer rechtsextremer Gewalt ist weit größer als angenommen“, sagte Singelnstein dieser Redaktion. Unter seiner Leitung erforscht derzeit ein Team von Wissenschaftlern, wie die Polizei mit rechter Gewalt in der Praxis umgeht. So sei die Zahl der Todesopfer durch rechte Gewalttäter vermutlich doppelt so hoch wie angegeben.
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Zuletzt hatte die Bundesregierung von 83 Todesopfern seit dem Wendejahr 1990 gesprochen. Opferverbände, Stiftungen und Medien kommen aber seit Jahren zu ganz anderen Ergebnissen. Singelnstein verweist auf Studien, wonach in dieser Zeit mindestens 169 Personen von Neonazis und anderen extrem Rechten getötet worden seien. Bei weiteren 61 Todesopfern gebe es Indizien für ein rechtes Motiv der Täter. „Bei rechtsextrem motivierten Straftaten ist von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen“, resümiert der Kriminologe.