Düsseldorf. Warum es für Verfassungsschützer immer schwerer wird zu erkennen, wann brauner Hass im Netz zu einem Attentat auf Ausländer oder Politiker führt.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) war kaum im Amt, da bekam er gleich eine Ahnung davon, wie geschickt Rechtsextremisten inzwischen im Internet mobil machen. In Reuls Namen wurde im August 2017 ein täuschend echt aussehender Erlass verbreitet, der die Polizeidienststellen im Land angeblich anwies, Straftaten von Flüchtlingen oder Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr zu verfolgen. Obwohl der Innenminister schnell klarstellte, dass es sich um „Fake News“ mit Verhetzungspotenzial handele, verbreitete sich der vermeintliche Vertuschungs-Erlass rasend schnell in den sozialen Netzwerken.

„Das Internet ist mittlerweile zum wichtigsten rechtsextremistischen Propagandainstrument geworden“, bilanzierte bereits im vergangenen Jahr der NRW-Verfassungsschutz. Hier erreichen giftige Propaganda und noch so krude Thesen ein Massenpublikum, das eine von der Personenzahl her eigentlich kleine Szene schnell als Massenbewegung erscheinen lässt. Die inzwischen winzige NPD etwa, die bei der Landtagswahl 2017 mit 0,3 Prozent sogar unter der Wählerstimmen-Grenze für Mittel aus der Parteienfinanzierung blieb, kann bei Facebook zwischenzeitlich mehr als 170.000 mal „Gefällt mir“-Resonanz erzielen.

Für die Verfassungsschützer ist es schwer vorherzusehen, wann aus Hass und Gewaltfantasien im Netz eine reale Gefahr für Ausländer, Politiker oder lokal bekannte Flüchtlingshelfer wird. Die meisten rechtsextremistischen Straftaten würden erfahrungsgemäß spontan begangen, wissen die Experten im Innenministerium. Zum Beispiel wurden 2015 in NRW die meisten Angriffe auf Flüchtlingsheime von Menschen begangen, die nie zuvor durch rechtsextremistische Straftaten oder braune Verbindungen aufgefallen waren.

Selbst die beiden schwersten Angriffe auf NRW-Kommunalpolitiker - das Messer-Attentat auf die heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker im Straßenwahlkampf 2015 und der Imbiss-Überfall 2017 auf den Altenaer Bürgermeister Andreas Hollstein - wären mit noch so guter Szene-Beobachtung kaum zu verhindern gewesen. Einzeltäter, die sich über Jahre in ihrer eigenen Welt aufgestachelt hatten, schlugen plötzlich zu.

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Da erforderte der bislang schwerste rechtsterroristische Anschlag in NRW, das Sprengstoff-Attentat vor fast 20 Jahren am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn, noch weitaus größeren Planungsaufwand. Damals waren zehn ausländische Sprachschüler von einer Bombe zum Teil schwer verletzt und das ungeborene Baby einer Schwangeren getötet worden. Der mutmaßliche Täter, ein lokal bekannter Rechtsextremist, konnte in einem Prozess 2018 nicht gerichtsfest überführt werden.

Seit der Flüchtlingskrise herrscht bei Rechtsextremisten "Aufbruchstimmung"

In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich die rechte Szene in NRW deutlich gewandelt. Seit der Flüchtlingskrise 2015 registriert der Verfassungsschutz eine „Aufbruchsstimmung“ unter den Rechtsextremisten. Fremden- und islamfeindliche Argumentationsmuster hätten in der Gesellschaft in breiterem Umfang Fuß gefasst. Einige Akteure im rechtsextremistischen Spektrum hofften, „dass sich Erfolge der AfD positiv für den Rechtsextremismus auswirken“, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2017. Parteien wie die „Pro“-Bewegungen oder die NPD spielen seit dem AfD-Aufstieg in NRW keine Rolle mehr. Es wird in der Szene offen darüber spekuliert, dass die AfD die Funktion eines „Türöffners“ übernommen habe, weil sich die Grenze des Sagbaren in Deutschland verschoben und der Resonanzraum für eine extreme Ansichten deutlich erweitert hat.

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Der Verfassungsschutz konzentriert sich bei der Beobachtung der organisierten Umtriebe am äußersten rechten Rand vor allem auf drei Stränge. Da ist zum einen die wachsende Gruppe der knapp 3000 „Reichsbürger“ in NRW, die staatliche Institutionen der Bundesrepublik Deutschland ablehnen und als gewaltbereit gelten. Desweiteren bindet die Partei „Die Rechte“ viel Aufmerksamkeit der Verfassungsschützer. Es handele sich um ein Sammelbecken von Neonazis, die aus den 2012 noch vom früheren Innenminister Ralf Jäger (SPD) verbotenen Kameradschaften im Land stammten, analysierte der Verfassungsschutz. Hochburg der gewaltbereiten Truppe sei Dortmund. Im Schutzmantel des Parteienrechts stelle sich die „Rechte“ offen in eine „nationalsozialistische Tradition“.

Wachsamkeit erfordern auch national und international vernetzte rechtsterroristische Vereinigungen wie „Oldschool Society“. Eine der Führungsfiguren aus NRW wurde zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Viel Arbeit macht überdies die Überwachung dessen, was die Verfassungsschützer „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ nennen: Konzerte, Fight Clubs (Kampfveranstaltungen), Lagerfeuer. Denn diese zielen auf das wichtigste Kapital jeder extremistischen Strömung: Nachwuchs.