Bochum. . Es gibt mehr Opfer durch rechtsextreme Gewalt als angenommen. Kriminologen erforschen, warum die Polizeistatistik nicht die Realität abbildet.
Brennende Flüchtlingsheime, Angriffe auf Asylbewerber, brutale Schlägereien und Sachbeschädigungen – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle im Jahr 2015 registrierten die Ermittler einen bislang nie da gewesenen Höchststand rechtsextremer Straf- und Gewalttaten in Deutschland.
Das Bundesinnenministerium zählte unter der Rubrik „Politisch motivierte Kriminalität“, im Polizeijargon „PMK rechts“ genannt, 20.520 Straftaten. Dieser traurige Rekord wurde 2016 mit 23.555 Fällen erneut gebrochen, darunter fielen knapp 1700 Gewalttaten. Im folgenden Jahr sanken die Fallzahlen zwar wieder deutlich, blieben aber auf hohem Niveau.
Bildet die Statistik die ganze Wahrheit ab?
Die Realität dürfte noch weit schlimmer sein. „Die Zahl der Opfer rechtsextremer Gewalt ist weit größer als angenommen“, meint Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie an der Ruhr-Uni Bochum. Unter seiner Leitung erforscht jetzt ein Team von Wissenschaftlern, wie und warum sich der Bereich rechter Gewalt ändert und wie die Polizei damit in der Praxis umgeht.
Zuletzt hatte die Bundesregierung im Herbst 2018 von 83 Todesopfern durch rechte Gewalt gesprochen. Opferverbände, Stiftungen und Medien kommen aber seit Jahren zu ganz anderen Ergebnissen. Singelnstein verweist zum Beispiel auf Recherchen von Tagesspiegel und Zeit Online, wonach seit 1990 mindestens 169 Menschen von Neonazis und anderen extremen Rechten getötet worden seien. Bei weiteren 61 Todesopfern gebe es zumindest Indizien für ein rechtes Motiv der Täter. Singelnstein hält diese Angaben für belastbar.
Gibt es auch in NRW mehr Todesopfer?
NRW sei das Land mit der bundesweit höchsten Zahl an Verdachtsfällen von Todesopfern rechter Gewalt, so der Forscher. Auch hier gebe es diese Lücke, denn zu den elf anerkannten Todesopfern müssten nach den Recherchen nichtstaatlicher Organisationen wohl 13 weitere hinzugerechnet werden. Singelnstein rät der Landesregierung, diese Verdachtsfälle wissenschaftlich überprüfen zu lassen, so wie es Berlin und Brandenburg bereits gemacht hätten.
Das NRW-Innenministerium verweist darauf, diese Fälle bereits im Jahr 2015 ohne Ergebnis überprüft zu haben: „Keiner der Fälle aus NRW wurde nachträglich als Delikt der politisch motivierten Kriminalität erfasst“, teilt das Ministerium auf Anfrage mit.
Doch auch in der jüngsten Vergangenheit sei die Statistik lückenhaft. So meldete die Bundesregierung für die vergangenen drei Jahre nur ein Todesopfer rechter Gewalt – den 32-jährigen Polizisten Daniel E., der 2016 von einem „Reichsbürger“ erschossen wurde. Dessen Verurteilung zu lebenslanger Haft wurde erst vor wenigen Tagen rechtskräftig. Nach unabhängigen Recherchen sind jedoch seit 2015 mindestens elf weitere Personen durch rechte Gewalt ums Leben gekommen.
Wie kommt es zu den unterschiedlichen Angaben?
Die Frage sei, wie und wann die Polizei einen Zusammenhang zwischen politischer Einstellung und Straftaten herstellt und wie dies in der Praxis festgestellt wird. „Oft hängt dies von der sorgfältigen oder eben weniger sorgfältigen Arbeit des Beamten vor Ort ab“, sagt Singelnstein. Die Frage eines möglichen politischen Hintergrunds einer Gewalttat stehe meist nicht im Zentrum der polizeilichen Ermittlungen, sondern die Aufklärung des Tatablaufs.
Diesen Punkt bestätigt das NRW-Innenministerium. Bei der Erfassung politisch motivierter Gewalt nach einem bundesweit einheitlichen Verfahren werde die „tatauslösende politische Motivation“ in den Mittelpunkt gerückt, nicht ein womöglich rechtsextremer Hintergrund des Täters. Kurz: Wenn ein Neo-Nazi einen Mord begeht, muss aus Sicht der ermittelnden Behörden das Tatmotiv nicht zwingend extremistisch sein. Es könne sich ja auch um Habgier oder „die Befriedigung des Geschlechtstriebs“ gehandelt haben, so das Ministerium.
Erfahren die Beamten immer von den Taten?
„In der Praxis entscheiden die Beamten vor allem anhand des Eindrucks, den sie sich verschaffen. Dabei kann man sensibel sein für mögliche politische Hintergründe oder nicht. Man kann Hinweisen nachgehen oder eben nicht“, meint Singelnstein. Politische Gründe, die Zahlen möglichst niedrig zu halten, möchte er niemandem unterstellen. „Aber es gibt Fälle von internen Anweisungen, die Einstufungen als rechtsmotivierte Gewalt restriktiv zu behandeln, damit die jeweilige Stadt nicht in einem schlechten Licht erscheint.“
Eine weitere Verzerrung liege im Anzeigeverhalten der Menschen. Von vielen Straftaten würde die Polizei erst gar keine Kenntnis bekommen. Ausländer oder Obdachlose, die als Zielgruppe rechtsextremer Gewalt gelten könnten, dürften seltener Anzeige erstatten als andere Gruppen. So zeigten die Daten nicht das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt, sondern dokumentierten lediglich die Registrierungspraxis der Polizei.
Wie interpretiert die Politik die Daten?
„Bei rechtsextrem motivierten Straftaten ist daher von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen“, resümiert der Kriminologe. Mit ihrer Arbeit wollen die Bochumer Forscher nun mehr Licht in diesen Bereich bringen.
Doch es geht ihnen nicht nur um Zahlen, Daten und Statistiken. Von der Bewertung der Delikte ist abhängig, welche Maßnahmen die Behörden ergreifen und in welche Richtung die Ermittlungen verlaufen. Dass hier der Ausgangspunkt für groteske Pannen liegen kann, zeigten die jahrelangen erfolglosen Ermittlungen zum NSU. Hier wurde ein rechtsextremer Hintergrund lange nicht erkannt. Zudem baue politisches Handeln auf die jährliche Statistik auf.
Wieso veränderte sich die gesellschaftliche Debatte?
Die rasant steigenden Fallzahlen seit 2015 müssen im Kontext des „Rechtsrucks der gesamten öffentlichen Debatte“ betrachtet werden, gibt Singelnstein zu bedenken. Das Erstarken der AfD habe die Diskussion etwa um innere Sicherheit und Migration nach rechts driften lassen.
Dass der Bundesinnenminister die zuletzt wieder gesunkene Zahl der Straf- und Gewalttaten als Erfolg verbucht, könnte sich vor diesem Hintergrund als trügerisch erweisen. So mahnt auch der Verfassungsschutzbericht, dass die sinkenden Zahlen „nicht über das anhaltend hohe Gefährdungspotenzial hinwegtäuschen“ dürften. Singelnstein ist sicher: „Unter der Oberfläche liegt mehr im Argen, als es die Statistik zeigt.“
>>>> Die neue Forschergruppe an der Ruhr-Uni
Das Forschungsprojekt der Bochumer Kriminologen trägt den Titel „Rechtsextreme Gewaltdelinquenz und Praxis der Strafverfolgung“. Es wird drei Jahre von der Hans-Böckler-Stiftung mit 180.000 Euro gefördert.
Mit der Summe werden drei Doktorarbeiten finanziert. Sie sollen Antworten darauf liefern, wie und warum sich der Bereich rechter Gewalt wandelt. Außerdem soll empirisch untersucht werden, wie die Praxis der Strafverfolgungsbehörden bei rechtsextrem motivierten Straftaten genau aussieht.