Essen. Am Dienstag vor 25 Jahren rannten 600 DDR-Bürger von Ungarn in den Westen. Es war der Anfang des revolutionären Herbstes 1989 - und der Anfang vom Ende der DDR. Möglich wurde es, weil ein ungarischer Grenzer sich im entscheidenden Moment darauf berief, dass er hinten keine Augen hat.

Arpad Bellas Name steht in keinem Geschichtsbuch. Der un­garische Grenzoffizier, lange in Rente, hat an dem warmen Abend von 25 Jahren einfach weggeguckt. Seinen fünf Leuten hat er damals befohlen: Schaut nach Österreich! „Da wir hinten keine Augen haben, konnten wir auch niemanden aufhalten“, sagt er heute.

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So schafften es, am 19. August 1989, 600 DDR-Bürger in den Westen. Sie hatten auf dem Campingplatz Fertörakos am Neusiedlersee zwischen dem ungarischen Sopron und dem österreichischen St. Margarethen Urlaub gemacht. Sie sind einfach losgelaufen. Über eine kleine Kuppe. Durch ein altes Holztor, das für drei Stunden Schauplatz eines völkerverbindenden Picknicks sein sollte. Geplant war, dort Speck am Grill zu rösten. Es wurde die bis dahin größte Massenflucht aus Honeckers Staat – das Signal erst für Hundert, später Hunderttausend: Fliehen geht.

Das Beben grollt erst leise

Deutschland, in jenem heißen Sommer. Im Westen fliegen sie, wie immer, nach Mallorca. Der Osten fährt, wie immer, nach Rügen. Oder eben zu den ungarischen „Brüdern“. Was anders ist: Das kommende weltpolitische Beben grollt leise. Es schickt erste Stöße. Die lösen die starren Strukturen.

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Michail Gorbatschow in Moskau wirbt für Glasnost und Perestroika, Offenheit und Umbau. Die DDR-Führung findet das albern: Warum er die Tapeten wechseln solle, wenn der Nachbar renoviere, fragt Erich Honecker bockig. Bulgarien ist pleite und bittet drei Mal um Anschluss an die Sowjetunion, was drei Mal abgelehnt wird. Auf dem Warschauer Pakt-Gipfel krakeelt Rumäniens greiser Parteichef Ceauşescu. In Polen zieht die „Solidarność“ ins Parlament ein. Vernon Walters, neu als US-Botschafter in Bonn, sagt, während seiner Amtszeit werde die Mauer fallen.

Wie senil, unken seine Mitarbeiter. Was geht uns das an, finden Deutsche (West), die sich in dem einen der zwei deutschen Staaten wohlig eingerichtet haben. Sie finden anderes spannend: Zeitungen spekulieren, Lothar Späth werde Helmut Kohl als Kanzler ablösen. Kohl hat Probleme mit der Prostata. RAF-Häftlinge hungerstreiken. Bonn und Washington streiten um 77 Atomraketen des Typs „Lance“.

Ein Gespräch am Rheinufer

Verteidigungsfragen sind wichtig. Das Land ist geteilt. Durch 1300 Kilometer Stacheldraht, 706 Wach­türme, Minen, 136 DDR-Grenzkompanien und 1212 scharfe Hunde. Erst im Februar ist der junge Chris Geoffroy auf der Flucht erschossen worden. Was will da dieser Gyula Horn, der kaum bekannte Außenminister von Un­garn, der Ende Juni ein Loch in den Eisernen Vorhang schneidet? Die sowjetische Geduld austesten mit dem resistenten Bruderstaat, der immer mehr nach Westen driftet? Ist er wahnsinnig?

Auf den Spuren der Berliner Mauer

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© Zeus
Damit der 15-jährige ZeusAward-Gewinner Christopher Rauen sich eine Vorstellung davon machen kann, wie Berlin in Zeiten der Teilung ausgesehen hat, steht zunächst ein Besuch des 360-Grad-Mauer-Panoramas auf dem Programm. Hier zeigt der Künstler Yadegar Asisi - künstlerisch verdichtet - wie es damals vor der Mauer ausgesehen hat.     Im Foyer der Ausstellung liest Christopher, was Freiheit für die Besucher bedeutet ...
Damit der 15-jährige ZeusAward-Gewinner Christopher Rauen sich eine Vorstellung davon machen kann, wie Berlin in Zeiten der Teilung ausgesehen hat, steht zunächst ein Besuch des 360-Grad-Mauer-Panoramas auf dem Programm. Hier zeigt der Künstler Yadegar Asisi - künstlerisch verdichtet - wie es damals vor der Mauer ausgesehen hat. Im Foyer der Ausstellung liest Christopher, was Freiheit für die Besucher bedeutet ... © Zeus
... und schreibt auch seine eigene Antwort auf die Frage
... und schreibt auch seine eigene Antwort auf die Frage "Was bedeutet Freiheit für dich?" auf die für diesen Zweck bereit stehende Tafel. © Zeus
Dann geht es erst einmal zurück in die Gegenwart, denn langsam beginnt der Magen zu knurren. Die Imbiss-Landkarte im Deutschen Currywurst Museum zeigt schnell, wo man in Berlin seinen Appetit stillen kann.
Dann geht es erst einmal zurück in die Gegenwart, denn langsam beginnt der Magen zu knurren. Die Imbiss-Landkarte im Deutschen Currywurst Museum zeigt schnell, wo man in Berlin seinen Appetit stillen kann. © Zeus
Als großer Currywurst-Fan lässt Christopher es sich nicht nehmen, selbst im ausgestellten Imbiss-Wagen Hand anzulegen.
Als großer Currywurst-Fan lässt Christopher es sich nicht nehmen, selbst im ausgestellten Imbiss-Wagen Hand anzulegen. © Zeus
Dafür ist Curry natürlich unverzichtbar.
Dafür ist Curry natürlich unverzichtbar. © Zeus
Begleitet von seiner Mutter Martina (links) und Monika Grasberger, einer Mitarbeiterin von Gastgeber Gazprom Germania, besucht Christopher natürlich auch den Berliner Fernsehturm.
Begleitet von seiner Mutter Martina (links) und Monika Grasberger, einer Mitarbeiterin von Gastgeber Gazprom Germania, besucht Christopher natürlich auch den Berliner Fernsehturm. © Zeus
Von der 203 Meter hohen Panorama-Etage aus hat er einen tollen Blick auf die Spree.
Von der 203 Meter hohen Panorama-Etage aus hat er einen tollen Blick auf die Spree. © Zeus
Vier Meter höher - also auf 207 Metern - befindet sich das Restaurant, wo Christopher auf der sich drehenden Plattform ein Getränk genießt.
Vier Meter höher - also auf 207 Metern - befindet sich das Restaurant, wo Christopher auf der sich drehenden Plattform ein Getränk genießt. © Zeus
Diese Metallstäbe markieren den Originalverlauf der Berliner Mauer.
Diese Metallstäbe markieren den Originalverlauf der Berliner Mauer. © Zeus
Im Osterberliner Teil erinnern in den Boden eingelassene Plaketten an Menschen, die Fluchtversuche unternommen haben und gescheitert sind.
Im Osterberliner Teil erinnern in den Boden eingelassene Plaketten an Menschen, die Fluchtversuche unternommen haben und gescheitert sind. © Zeus
Christopher hält die runden Tafeln im Bild fest.
Christopher hält die runden Tafeln im Bild fest. © Zeus
Auch die, die auf Westberliner Seite zu finden sind. Diese erzählen von geglückten Fluchten.
Auch die, die auf Westberliner Seite zu finden sind. Diese erzählen von geglückten Fluchten. © Zeus
Der Gedenkstättenbereich
Der Gedenkstättenbereich "Die Mauer und der Todesstreifen" zeigt die Mauer aus Westberliner Sicht. Christopher und seine Mutter versuchen durch den Mauerspalt den "Todesstreifen" zu fotografieren. © Zeus
Und an dieser Hausfassade wird der Wandel der Zeit dargestellt.
Und an dieser Hausfassade wird der Wandel der Zeit dargestellt. © Zeus
Nach dem Fall der Mauer haben 118 Künstler Teile der Mauer bemalt. Die bemalten Abschnitte bilden heute die East Side Gallery in Berlin Friedrichshein. Christopher kennt natürlich das berühmt gewordene Gemälde von Dmitri Wladimirowitsch Wrubel, das den Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker zeigt. Zusammen mit seiner Mutter bewundert er es nun direkt vor Ort.
Nach dem Fall der Mauer haben 118 Künstler Teile der Mauer bemalt. Die bemalten Abschnitte bilden heute die East Side Gallery in Berlin Friedrichshein. Christopher kennt natürlich das berühmt gewordene Gemälde von Dmitri Wladimirowitsch Wrubel, das den Bruderkuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker zeigt. Zusammen mit seiner Mutter bewundert er es nun direkt vor Ort. © Zeus
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Was Horn weiß: Am 12. Juni ist der Sowjetführer in Bonn gewesen. Der Kanzler hat ihn abends zum Rhein geführt. Sie haben in der lauen Luft von einer Mauer aufs Beueler Ufer geschaut, über die Toten ihrer Familien im Weltkrieg nachgedacht und Kohl hat den Gast mit ein paar Sätzen verblüfft: „Sie können diesen Fluss stauen“, hat er zu Gorbatschow gesagt, „doch dann wird er über die Ufer treten. Er wird sich auf andere Weise seinen Weg zum Meer bahnen.

So sicher der Rhein zur Nordsee fließt, so sicher werden auch deutsche und europäische Einheit kommen.“ Es war Kohl, hat Horn erfahren, der am Ende verblüfft zurückgeblieben war: Der Kreml-Gast hatte ihm nicht mehr widersprochen.

Anfangs sind es 20 Flüchtlinge pro Woche

Guyla Horns Scherenschnitt, im Westen beiläufig wahrgenommen, ist im Osten längst Aufbruchzeichen. DDR-Familien kalkulieren: Wir können mit dem DDR-Pass nach Ungarn. In Budapest, in der Bonner Botschaft, gibt es den West-Pass. Dann sind wir Bundesbürger. Die Trabis beginnen zu rollen.

20, 30 Flüchtlinge melden sich anfangs pro Woche auf Österreichs Ämtern. Anfang August, zwei Wochen vor dem Grenzfest von Sopron, das die 600 zur Flucht nutzen werden, füllen sich Bonner Botschaften. 200 DDR-Bürger sitzen in Budapest fest. Am 8. des Monats schließt die Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Die Vorschriften sind so. 130 Gäste sind zu viel für Küche und WCs.

Der Herbst der Revolution

Jetzt wecken die Folgen von Arpad Bellas Weggucken das Interesse der Welt. Das erste Tor ist auf. Die Bilder: sensationell. Immer mehr kommen rüber, als der Westen aus Mallorca zurück ist und der Rest der Ostdeutschen aus Rügen. Der Herbst wird in Leipzig, Halle und Berlin zur Revolutionszeit.

Die Politik kapituliert vor dem Tempo der Geschichte. Im September werden die Züge aus der Prager Botschaft rollen. Im Oktober werden sie Honecker in Rente schicken. Im November wird die Mauer fallen. Der Fluss wird das Meer erreichen. Ohne großen Umweg.