Essen. Katzensprung, würde der Volksmund sagen. Genau 202 Kilometer Luftlinie oder zwei Autostunden liegen zwischen den Städten Hamburg und Magdeburg – und es sind doch Welten, haben die Forscher der privaten Jacobs University Bremen für die Bertelsmann-Stiftung ermittelt.

Das bevölkerungsreichste Bundesland wächst zusammen. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen halten heute stärker zusammen als vor dem Jahr 2000. Sie sind weit mehr ehrenamtlich engagiert und haben dabei im Vergleich der Bundesländer deutlich aufgeholt. Auch die Hilfsbereitschaft ist gewachsen. Vor dem Jahr 2000 sagte nur jeder Zweite, er könne enge Bezugspersonen außerhalb der Familie um Hilfe bitten. Heute sind das 75 Prozent.

Die neuen Daten der Studie „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“ im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zeigen nach den Analysen der Forscher, dass die Gefühlswelt der Deutschen in Ost und West immer noch weit ausein­anderklafft und teilweise auch wieder auseinanderdriftet. Die Ursachen sehen sie vor allem in einem unterschiedlichen Wohlstandsniveau. So liegt Hamburg mit seinem hohen Sozialprodukt auf Platz 1 des Gefühls für Gemeinsinn. Sachsen-Anhalt ist das Schlusslicht. Nordrhein-Westfalen liegt im Mittelfeld. Bertelsmann-Vize Liz Mohn: „Die Bekämpfung der Armut ist daher für die Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zentral.“ Gestiegen ist in NRW laut den Ergebnissen auch die Toleranz gegenüber Ausländern und Homosexuellen.

Bundesrepublik ist in den Gefühlswelten ihrer Regionen geteilter denn je

Katzensprung, würde der Volksmund sagen. Genau 202 Kilometer Luftlinie oder zwei Autostunden liegen zwischen den Städten Hamburg und Magdeburg – und es sind doch Welten, haben die Forscher der privaten Jacobs University Bremen für die Bertelsmann-Stiftung ermittelt.

Sie haben Deutschland und die Deutschen sozusagen auf die Couch gelegt für ihr „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt“. Es kommt 25 Jahre nach der Einheit eine wenig schmeichelhafte Diagnose heraus: Die Bundesrepublik ist in den Gefühlswelten ihrer Regionen geteilter denn je. Den Westlern geht es gefühlt besser als den Menschen im Osten.

Wo leben die zufriedensten Bundesbürger und die mit dem engsten Zusammenhalt?

Trotz Schmuddelwetter, Elbphilharmonie und dem möglichen HSV-Abstieg: in Hamburg. Ihnen folgen: Unmittelbar Bayern und Baden-Württemberg, im Mittelfeld große Flächenländer wie Nordrhein-Westfalen – und am Ende der Osten. Die Einwohner von Sachsen-Anhalt sind am unzufriedensten. Ihr gesellschaftlicher Zusammenhalt hat im Vergleich der 16 Bundesländer die rote Laterne.

Wo liegen dafür die Ursachen?

Kai Unzicker ist einer der Forscher. Er ist überzeugt: „Je höher das Bruttoinlandsprodukt eines Landes, je niedriger das Armutsrisiko, je urbaner das Wohnumfeld und je jünger die Bevölkerung, desto höher ist der Zusammenhalt.“ Kern der Ergebnisse ist also: Es kommt auf den Wohlstand an.

Die von den Wissenschaftlern genutzten Daten zeigen das?

Ja. Zum Beispiel sind schon die Antworten auf die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit eindeutig. Im Westen glaubt jeder zweite der Befragten, einen gerechten Anteil am Wohlstand zu haben. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ist es nur jeder fünfte. Auch gilt: Je höher die Arbeitslosenrate, desto weniger hält eine Gesellschaft zusammen. Zum Vergleich: Hamburg hat das höchste Sozialprodukt, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg liegen gemeinsam mit Thüringen auf den letzten drei Plätzen.

Wie fühlen sich die Menschen an Rhein und Ruhr?

Die Nordrhein-Westfalen haben sich in den letzten 25 Jahren positiv verändert. Die Bertelsmann-Studie geht davon aus, dass sie gerade bei der Hilfsbereitschaft aufgeholt haben und jetzt bundesweit auf Platz 3 stehen. 75 Prozent sagen, sie könnten Menschen außerhalb der eigenen Familie um Hilfe bitten. Vor dem Jahr 2000 waren dies 50 Prozent. Und auch mehr Bürger in NRW sind in Ehrenämtern tätig.

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Die Zahl der Ausländer ist gewachsen. Wie verhalten sich die NRW-Bürger ihnen gegenüber?

Die Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen wurde solidarischer, toleranter. Auf die Frage, ob Ausländern eine politische Betätigung verboten werden soll, sagen heute deutlich weniger Befragte Ja als zu Beginn der 90er-Jahre. Jedoch fällt auf: Zuwanderern gegenüber, die ihren Lebensstil und die Traditionen ihrer Heimat beibehalten wollen, gibt es – wie im übrigen Bundesgebiet – eine deutliche Distanz. Dennoch kommen die Wissenschaftler zum bundesweiten Ergebnis, dass Zusammenhalt dort besonders groß ist, wo viele Zuwanderer leben. Liz Mohn ist Vorstands-Vize der Bertelsmann-Stiftung. Sie mahnt: „Offenbar empfinden noch immer viele Deutsche Zuwanderung als Bedrohung. Wir sollten stattdessen Vielfalt als Chance begreifen.“

Wie entwickelt sich die Toleranz ge­genüber Homosexuellen?

Ganz Deutschland wird hier toleranter, wenn es gefragt wird: Sollen Schwule und Lesben so leben können, wie sie wollen? Die Forscher stellen anerkennend fest: „Selbst in Bayern als dem in diesem Punkt am wenigsten toleranten westdeutschen Bundesland herrscht relativ hohe Zustimmung zu der Aussage.“ Und auch in Ostdeutschland wachse die Offenheit.

Haben die Bertelsmann-Forscher denn auch Pluspunkte im Osten festgestellt?

Ja. Es ist die Gesetzestreue. Soziale Regeln werden in der ehemaligen DDR eher respektiert als in den alten Bundesländern, und im Westen sind auch die ländlichen Regionen gesetzestreuer als die städtischen. Hamburg, Bremen und Berlin haben hohe Kriminalitätsraten. Sie gehen am lockersten mit den Regeln um. Und weil von den 20 Großstädten in Deutschland zehn in NRW liegen, erreicht NRW bei dem Maßstab auch nur einen Mittelplatz.