Berlin/Kiew. . In den Hauptstädten des Westens rechnet man mit einer baldigen Eskalation der Krise: Russische Truppen könnten nun doch noch in die Kämpfe in der Ostukraine eingreifen. Oder mehr als das. Die Beobachter sind sich aber uneins, wie stark die russischen Verbände eigentlich sind.
Die ukrainische Armee zieht den Ring um Donezk enger. Die Separatistenhochburg wurde am Mittwoch erstmals aus der Luft angegriffen. Binnen 24 Stunden starben nach offiziellen Angaben bei Gefechten 18 Soldaten.
Der Konflikt sei in einer „Phase hoher Intensität“, heißt es in der Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Es sieht so aus, als suche die Armee die Entscheidung. Die Frage, die man sich jetzt in Brüssel, Berlin und anderen Hauptstädten stellt, ist so banal wie brisant: Was tut Russland?
Isoliert betrachtet, wäre die „Anti-Terror-Operation“ aussichtsreich. Greift Russland ein, wäre die Ukraine überfordert. Russland verfügt laut SWP-Studie über fünf Mal so viele Soldaten, gibt für seine Streitkräfte das 25-fache aus. Zudem ist die ukrainische Armee schlecht ausgerüstet und schlecht motiviert. Von einer „brüchigen Loyalität“ sprechen die SWP-Experten.
Zusätzliche Sorge um Transnistrien
Die Nato befürchtet, dass der russische Präsident Wladimir Putin Truppen entsenden und eingreifen könnte. Das schlimmste Szenario, das diskutiert wird, kalkuliert sogar ein, dass die Russen bei der Gelegenheit auch gleich in Transnistrien einmarschieren würden. Das ist ein Kleinstaat zwischen der Ukraine und Moldawien. Völkerrechtlich zählt er zu Moldawien, faktisch haben Moskau-treue Kräfte das Sagen; ein vergessener Konflikt, in dem Putin dann auch Fakten schaffen könnte.
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Nach Nato-Schätzungen hat der russische Präsident 20.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammenziehen lassen. Parallel dazu führt die russische Armee ein Manöver durch – eine Kombination, die nicht zur Deeskalation beitrage, so eine Sprecherin des Auswärtigen Amts. In deutschen Sicherheitskreisen wird die Lage beobachtet. Man sehe „Bewegung“, aber keinen „Fähigkeitszuwachs“. Die Diskussion dreht sich um russische Kräfte, die schon bisher an der Grenze zur Ost-Ukraine stationiert waren.
Die USA schätzen die Lage dramatischer ein
Das klingt entspannter als etwa in den USA, wo von gefechtsbereiten Verbänden die Rede ist. Polens Regierungschef Donald Tusk sieht Anzeichen für eine Eskalation. Die Interventionsgefahr sei größer als noch vor einigen Tagen. Auch die baltischen Staaten sind alarmiert; dorthin, genauer: nach Lettland, will Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in zwei Wochen reisen.
Kriegsangst macht sich derweil in Deutschland breit. Nach einer Forsa-Umfrage hält es jeder dritte Bürger für möglich, dass es zum Krieg zwischen der Nato und Russland kommen könnte. Auch für die Wirtschaft sind die Vorzeichen besorgniserregend. Im Juni hat die deutsche Industrie den stärksten Auftragseinbruch seit fast drei Jahren verzeichnet. Das liegt auch daran, dass die deutschen Exporte nach Russland deutlich zurückgegangen sind.
Die ganze Gegend gilt als traumatisiert
In Sicherheitskreisen in Berlin spricht man von der Ostukraine als einem „traumatisierten Raum“. Gemeint ist, dass es mehr braucht als einen militärischen Sieg. Die Frage ist, in welcher Form die Menschen dort zusammenleben wollen. Eine politische Lösung ist nicht erkennbar.
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Über Russlands Einfluss in der Ostukraine erhält man kontroverse Auskünfte. Auf der einen Seite heißt es, die Zeiten seien „vorbei“, in denen Wladimir Putin die Separatisten nach Belieben steuern konnte. Das passt zu dem Bild, das die SWP von den Separatisten zeichnet. Sie seien ein „vielgestaltiger Gegner“. Ihre Stärke wird auf 15.000 Kämpfer geschätzt, Söldner, dazu Freiwillige aus der Region, aber auch Russen, Kosaken, Tschetschenen, Osseten, Armenier. Ihre Motivation reiche von Geld über Abenteuerlust „bis zum politisch-ideologischen Ziel, einen neuen Staat zu errichten“.
Auch die Ukrainer sind eine bunte Truppe
Auf der anderen Seite macht die SWP-Analyse deutlich, wie sehr Russland die Separatisten unterstützt; einmal politisch, medial, sodann praktisch, militärisch. Moskau lasse zu, dass Waffen in die Ukraine gelangen und dass Separatisten die Grenzregion als ihren Rückzugsraum nutzen.
Wie die „pro-russischen Rebellen“ ist auch die „Anti-Terror-Operation“ der Regierung in Kiew sehr vielgestaltig. Es kämpfen neben den regulären Streitkräften Einheiten des Innenministeriums, des Inlands-Geheimdienstes SBU, des Grenz- und Katastrophenschutzes sowie Milizen. Die Operationsführung wurde nicht Militärs, sondern dem SBU übertragen. Der Grund: Es soll nicht aussehen wie ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung.