Um 19 Uhr am 1. August 1914 marschieren deutsche Soldaten in Luxemburg ein. Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ beginnt. Sie wird mehr als 15 Millionen Tote kosten – und wäre vermeidbar gewesen.

Troisvierges in Luxemburg hat 3000 Einwohner. Die Grenzen zu Deutschland und zu Belgien sind nahe. Am 1. August 1914, gegen 19 Uhr, rief ein Fahrgast auf dem Bahnhof des kleinen Ortes entsetzt: „De Preise senn do“. Die Preußen. Das war eine Kompanie des 69. kaiserlichen Infanterieregiments unter einem Leutnant Feldmann. Sie rückte mit fünf Militärautos ein.

Der Leutnant und seine Leute haben an diesem Augustabend vor 100 Jahren, einem Samstag, mit dem Einmarsch ins neutrale Luxemburg den 1. Weltkrieg begonnen. Sie wollten den Flecken von französischen Soldaten „befreien“, sagten sie den überrumpelten Einheimischen. Franzosen gab es hier gar nicht. Die Deutschen zogen weiter nach Belgien. Ziel dort war zuerst die Feste Lüttich. Belgien aber, auch neutral, wehrte sich unplanmäßig.

Es waren die Stunden, in denen der Kontinent auf die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" zusteuerte, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler den Krieg 14/18 genannt hat – in einem maßlosen Spiel aller gegen alle: Russland wollte Serbien gegen den österreichischen Angriff beistehen. Deutschland zog gegen Russland und Frankreich in den Krieg, England gegen Deutschland.

15 Millionen Europäer kommen ums Leben

Bald würde Österreich nicht nur mit den Serben um den Balkan, sondern mit den Italienern um Dolomitengipfel kämpfen. Es würden Kanonen, MGs, Flugzeuge und Giftgas zum Einsatz kommen und die aufstrebende Großmacht USA nötigen, in den Krieg einzugreifen. Am Ende, im November 1918, würden 15 Millionen Europäer tot sein.

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Hätten die Mächtigen in diesen Tagen – vielleicht noch in den Stunden des 1. August – das große Sterben abwenden können?

Der Sommer des Jahres war heiß. Man war beschäftigt. Der deutsche Kaiser erholte sich am Sognefjord. Sein Generalstabschef Helmuth von Moltke verreiste. London sorgte sich um die politische Stabilität in Irland, die Russen um die des Zarenreiches. Der Mord an Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand lag einen Monat zurück.

Die Tat hatte die, allerdings heftige, diplomatische Juli-Krise ausgelöst: Mit dem Verdacht der Doppelmonarchie, Serbien stecke hinter dem Attentat. Mit dem eher beiläufig ausgestellten „Blankoscheck“ Wilhelms II. an Kaiser Franz-Josef in Wien, „in gewohnter Bündnistreue“ helfen zu wollen, sollte der sich zum Feldzug gegen die hinterhältigen Serben entschließen. Mit dem unerfüllbaren Ultimatum der so rückversicherten k.u.k.-Monarchie an Belgrad am 23. des Monats - und, am 28. Juli, der Kriegserklärung der Österreicher an die Nachbarn auf dem Balkan.

Wilhelm will deutsche Vormachtstellung in Europa

Kriegführen. Das haben sich Fürsten und Regierungschefs im Jahr 1914 so wie im 19. Jahrhundert vorgestellt, glaubt der Wissenschaftler Herfried Münkler. Nach „Ultimaten“ und „Mobilmachungen“ als Drohgesten als regionalen Konflikt mit Pferd, Säbel, vom Kommandohügel aus. Vor allem: Als kurzen.

Hat, im letzten Moment, der aus Norwegen nach Berlin zurückkommende Kaiser die fatale Fehlkalkulation gespürt? Ahnte er die Gefahr des Weltbrandes, den ein Zweifrontenkrieg schnell auslösen konnte?

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Wilhelm wollte die deutsche Vormachtstellung in Europa. Kein Zweifel. Doch so? Der Morgen des 1. August. Der Kaiser stürzt sich auf ein angebliches Angebot des britischen Außenministers Sir Edward Grey. Der deute an, meldet die Botschaft in London, in einem deutsch-russischen Krieg neutral zu bleiben und Frankreich zu beeinflussen, wenn Deutschland versprechen würde, Frankreich nicht anzugreifen.

„Jetzt können wir gegen Russland alleine in den Krieg ziehen. Wir schicken einfach unsere ganze Armee nach Osten“, ruft Majestät dem Generalstabschef strahlend zu. Barbara Tuchman schildert die Szene des Streits mit Moltke in dem legendären Werk "August 1914".

Moltke widerspricht dem Kaiser

Wieder entscheidet sich Weltgeschichte in Momenten. Der altgediente Offizier gerät in Rage. Kaisers Hirngespinst wirft alles über den Haufen. Es würde die Feldgrauen ins Chaos stürzen. Es würde den Schlieffen-Plan aushebeln, der den Zweifronten-Kampf – zuerst gegen Frankreich, dann gegen Russland – als Basis sieht. Moltke hat doch nichts anderes. Eine Million Soldaten umdirigieren? Ganze Züge könnten sich verirren! Geht nicht, kontert er dem Kaiser kühl.

Wilhelm gibt nach – und verspielt die letzte Chance für einen vielleicht begrenzbaren Konflikt. „Auf in den Kampf. Mir juckt die Säbelspitze“ jubeln junge Deutsche. Europa marschiert. Die Heere verschanzen sich vier Jahre. Das Blutbad in den Gräben verändert Europas Grenzen und Geschichte.