Ruhrgebiet. . Der Erste Weltkrieg hat im Ruhrgebiet wohl mehr Tote gefordert als die Bomben des Zweiten Weltkriegs – durch Hunger und Unterernährung. Vor einhundert Jahren ließ sich im Ruhrgebiet die beginnende Moderne bestaunen - doch dann kam der Krieg - wobei die Front weit weg war.

Mit wie viel Hurra sind sie in diesen Krieg gezogen. In fescher Uniform, mit stolz geschwellter Brust steigen sie in die Eisenbahnen auf den Bahnsteigen von Essen, Gelsenkirchen und Duisburg. Küssen ihre Liebsten, glauben fest, schon Weihnachten wieder hier zu sein. Doch viele, die heimkehren, in den unaufhaltsam zur Front pendelnden Zügen, sind verstümmelt. Ihre Gesichter zerschossen, Arme, Beine amputiert, die Seele entstellt. So kehren sie zurück in die Heimat, ins Ruhrgebiet, in dessen Fabriken auch die elenden Waffen dieses Krieges gedreht werden.

Es ist eine aufregende, eine flirrende Zeit, die da mit dem 1. Weltkrieg so abrupt ein Ende gefunden hat. Das Ruhrgebiet, man muss es sich als eine Region im Aufbruch vorstellen. Eng verflochten mit dem Rheinland, mit Düsseldorf und Köln, wirtschaftlich strotzend, ist es die Metropole Europas. „Neun Millionen Menschen! Eine größere Zusammenballung gibt es nicht in Europa“, sagt Prof. Theo Grütter, Chef des Ruhr-Museums.

Der Aufbruch in die Moderne

Im Ruhrgebiet lässt sich die beginnende Moderne bestaunen. Mit explodierenden Städten, für die Welt produzierenden Industrien, mit wachsenden Arbeiterschaften, die ersten Wohlstand genießen und allem Fortschritt, der die Neuzeit so fasziniernd macht: Straßenbahnen, Kaufhäuser wie Althoff in Essen, mit Varietés und Freizeitparks wie dem Dortmunder Fredenbaum. Erste Elektrizitätswerke wie das Essener RWE entstehen, auf den Postämtern wird telegrafiert, und wer kann, leistet sich eines der neuen Automobile.

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Und dann, mit dem August 1914, soll alles anders werden. Hier im Ruhrgebiet wird nicht gekämpft werden, hier verläuft keine Front. Die ist weit weg, in Frankreich, in Belgien und im Osten. Und doch wird sich auch hier der Alltag völlig verändern. Anfangs kaum merklich und dann, spätestens in diesem Hungerwinter 1916/17, mit voller Wucht. Die Männer verschwinden. Aus den Familien, den Fabriken, von den Straßen. Frauen und Kinder übernehmen ihre Arbeit. Zwölf Stunden am Tag schuften sie, meist für den halben Lohn.

Die Waffenschmiede des Landes

Schon vor 1914 gelten das Ruhrgebiet und das angrenzende Rheinland als Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie. Nun läuft die Maschinerie auf Hochtouren, wird bald nur noch für den Krieg produziert. Krupp in Essen, Rheinmetall in Düsseldorf, Bochumer Verein, sie alle profitieren vom Wettrüsten, vom Krieg, bauen dessen neue Werkzeuge.

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Von Geschützen wie der angeblich nach der Krupp-Erbin benannten Dicken Bertha über Panzerplatten bis hin zu den U-Booten aus der Kruppschen Germania-Werft bei Kiel. Der Kaiser, Wilhelm II., liebt das Meer, strebt nach der Seemacht, die treuen Krupps segeln pompös und bauen die Flotte.

Der Krieg an der Front, er ist brutal wie nie, anonymisiert, ein maschinisiertes Menschenschlachten. Ein endloser Stellungskrieg wie bei Verdun, der eben nicht, wie erwartet, nach wenigen Wochen beendet ist. Und an der Heimatfront darben die Menschen. Schon bald sind die Lebensmittel knapp. Es werden Lebensmittelmarken und Bezugsscheine ausgegeben. Das Ruhrgebiet steht Schlange.

Richtig hart wird es 1916/17, im sogenannten Steckrüben-Winter. Auf einen verregneten Herbst folgt ein bitterkalter Winter. Die Ernährungslage ist katastrophal, zudem mangelt es an Kohle. Bald müssen Volksküchen und Wärmhallen eingerichtet werden, Parks und Wälder werden zur Abholzung freigegeben. Im Deutschen Reich sterben 750.000 Menschen an Unterernährung. „Im Ruhrgebiet sind das weit mehr als im 2. Weltkrieg durch Bomben sterben“, sagt Theo Grütter.

Spätestens jetzt sind die letzten Reste von Kriegs-Euphorie verschwunden. Die Lazarette des Ruhrgebiets füllen sich mit den Krüppeln des Krieges. Und tagtäglich pendeln Züge. Zur Front und zurück. Nachschub liefern. Menschliches Material und Waffen. Die neue verheerende Waffe dieses Krieges, das Gas, auch sie ist im Ruhrgebiet entwickelt worden. Als Abfallprodukt der Kokereien, von der Chemie-Industrie verfeinert und auf dem Gelände getestet, auf dem später einmal die Flugbereitschaft der Bundesregierung stationiert sein wird: Köln-Wahn.

Die Menschen begehren auf gegen den Kaiser

Wenn es einen positiven Effekt geben sollte, am Ende dieses grausamen Krieges, dann ist es der, dass ein antiquiertes Regime, ein überholtes Gesellschaftssystem abgelöst werden sollte. Schon vor dem Krieg waren die unteren Schichten erstarkt, hatten sie gerade im Ruhrgebiet durch die großen Bergarbeiterstreiks ihre soziale Lage, ihre Rechte verbessern können. Im Krieg, um so mehr, ist der Staat, sind die Arbeitgeber auf die Zusammenarbeit mit ihren Gewerkschaften angewiesen, müssen sie Zugeständnisse machen.

Nun, wo der Krieg die Menschen verarmt, verelendet, aber auch gewalterfahren zurücklässt, begehren sie auf. Gegen den Kaiser, für Demokratie. Doch es sollte Jahrzehnte dauern, bis im Ruhrgebiet wieder ruhige Zeiten anbrechen.