Essen. . An der Ruhr residierte die „industrielle Nebenregierung“ des Reiches. Sie forderten Eroberungen in Belgien, Frankreich und Russland, um an die Rohstoffe der Nachbarn zu gelangen – Teil acht unserer Serie zum Ersten Weltkrieg.
1914 ist Mülheim an der Ruhr eine junge Großstadt. Sie hat die Grenze von 100.000 Einwohner erst wenige Jahre zuvor genommen. Überall wird gebaut. Mietskasernen für die Industriearbeiter des Ruhrgebiets entstehen. Im Broich-Speldorfer Wald südlich des Stadtkerns machen sich Villen breit. Das Haus Rott, das Hugo Stinnes gehört. Die Villa Anita, wo Fritz Thyssen wohnt, der Sohn des Konzernlenkers. Emil Kirdorf Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks AG, lebt auf dem „Streithof“, auf dem zwei Jahrzehnte später Hitler gerne zu Gast sein wird.
Was heute wenig ins Auge sticht: Im Grüngürtel zwischen Mülheim und Essen lag eine der wichtigsten Schaltstellen des 1. Weltkriegs. Schon in den letzten Friedensjahren agierte entlang des Uhlenhorst und einige Kilometer flussaufwärts auf dem Kruppschen Hügel in einer Art Wohngemeinschaft die industrielle Nebenregierung des Kaiserreiches.
Deutschlands Kohle- und Stahlmagnaten begleiteten von hier den Weg in den Krieg. Krupp hatte bis zur Aufdeckung des Skandals 1912 durch den Kommunisten Karl Liebknecht sogar ein eigenes Spionagenetz über Berlin geworfen, um mit Hilfe von Korruption über die Pläne der Militärs und der Politik auf dem Laufenden zu sein. Die Geheimpapiere trafen in Essen unter dem Codewort „Kornwalzer“ ein.
Stahlbarone auf Aggressionskurs
21. August 1914: Drei Wochen nach der Kriegserklärung schwenkt die Herrenrunde an der Ruhr euphorisch auf Aggressionskurs. Stinnes, August Thyssen, Alfred Hugenberg aus der Krupp-Chefetage und Kirdorf fordern von der Reichsregierung die Annexion der Kohle- und Erzgruben Frankreichs und Belgiens. Zu eroberndes Terrain soll „als Reichslande einverleibt werden“. August Thyssen verlangt „die Departements du Nord und Pas de Calais mit den Häfen Dünkirchen und Boulogne“, Emil Kirdorf explizit „Siedlungsland in Russland, um die Ernährungsbasis des deutschen Volkes sicherzustellen“.
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Anders als der Adel handeln die Ruhrbarone nicht nur aus nationalem Überschwang. Sie wollen an die Rohstoffe der Nachbarn. Lange haben sie deshalb die Regierung unter Druck gesetzt. Die Mittel der Einverleibung sollten zunächst rein ökonomischer Natur sein, wie ein Brief von Hugo Stinnes 1911 an den Reichstagsabgeordneten Cläß verdeutlicht: „Lassen Sie uns drei bis vier Jahre ruhiger Entwicklung und Deutschland wird der wirtschaftliche Herr über Europa. Die Franzosen sind hinter uns zurückgeblieben. Sie sind ein Volk der Kleinrentner.“ Doch als der Lauf der europäischen Geschichte es anders will, zünden sie die nächste Stufe: Man gründet den „industriellen Beirat“, ist ständig in Berlin präsent und schickt die Großaufträge der Militärs an die eigenen Fließbänder und Hochöfen.
51.000 Krupp-Arbeiter
Das Ruhrgebiet bei Kriegsbeginn ist ein Schmelztiegel. 3,3 Millionen Menschen leben hier. Einwanderungen aus Osteuropa liefern die Arbeitskräfte, die Schiffe aus Übersee den Grundstoff für die Stahlerzeugung. 1,7 Milliarden Tonnen Erz und Schlacke sind es alleine in den Thyssen-Werken in Bruckhausen. 51.000 Krupp-Arbeiter produzieren Guss-Stahl auf einem fünf Quadratkilometer großen Gelände westlich der Essener Innenstadt, auf dem genau ein Jahrhundert später Thyssen-Krupps neue Konzernzentrale entstehen wird. Ein Test-Schießstand ist 1914 inbegriffen.
Die Gewinne explodieren
Er wird bald zu klein. Zwar brechen die Märkte jenseits der Grenzen weg, die die deutschen Produzenten seit langem mit Kriegsgütern beliefert hatten. Zudem fehlen die Arbeitskräfte, die an die Front geschickt werden. Doch die Beschäftigung zwischen Duisburg und Dortmund entwickelt sich explosionsartig, als die Kämpfe beginnen. Denn schon im Herbst 1914 gehen dem Heer die Geschosse aus.
Je tödlicher die „Stahlgewitter“, je festgefahrener der Frontverlauf, desto größer wird die Nachfrage nach Granaten und Zwangsarbeitern aus den besetzten Gebieten. Das über Kriegsanleihe aufgelegte „Hindenburg-Programm“ befeuert die Produktion zusätzlich. Krupps „Dicke Bertha“ knackt die belgische Feste Lüttich, der „Lange Max“ wird mit einer Reichweite von 48 Kilometern zur Hauptwaffe der Großkampfschiffe der kaiserlichen Flotte. Thyssen baut eigens eine Geschossfabrik.
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Die Konzerne schicken üppige Rechnungen ans Reich. Als der Heeresleitung mitten im Weltkrieg dämmert, dass die Montanbranche ihre Gewinne zwischen 1913 und 1917 um 800 Prozent steigern kann, klagt sie über die „Eisenleute, die offenbar noch nicht genug verdienen“. Mit General Groener bezweifelt ein Spitzenmilitär die „Vaterlandsliebe“ der Konzernherren. Doch ein Untersuchungsausschuss unter der Leitung des Chefs der Deutschen Bank lässt sie ungeschoren. Das Revier ist jetzt die unantastbare „Waffenschmiede der Nation“. Ein Mythos.
Volle Kassen bei Kriegsende
Umso härter trifft die Beschäftigten der Betriebe das Kriegsende. Arbeiten bei Krupp 1918 rund 200.000 Menschen, muss die Belegschaft unter der Vorgabe des Versailler Vertrages, keine Rüstung mehr herzustellen, auf 50.000 verringert werden. Doch sind die Kassen der Konzerne in der Niederlage gepolstert.
Besonders gilt das für die von Hugo Stinnes in Mülheim. Er wird nicht nur Mitglied im Reichstag, ist am RWE und an der Hapag beteiligt. Ihm gehören dann auch 59 Erzbergwerke, 83 Bahnen und Reedereien, 56 Hütten, 37 Ölfelder und Dutzende Banken und Versicherungen. Durch den Krieg hat er die Basis für die Zukäufe und die goldene Zeit danach geschaffen.
Genießen kann er sie nicht. 1924 stirbt der siebenfache Vater mit 54 Jahren.