“Schreckliche viele verweinte Gesichter“ oder “alle freuen sich, dreinzuschlagen“: Auszüge aus 35 Tagebüchern des Deutschen Tagebuch-Archivs in Emmendingen versammelt die “Verborgene Chronik“. Gerade in der Hörbuch-Fassung erzählen sie spannend wie eine Live-Reportage von Alltag und Kriegstaumel.

Viele Ausstellungen haben uns den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren nahezubringen versucht, die Bücher mit den Analysen und Geschichtsdarstellungen dazu haben es bis in die Bestsellerlisten geschafft. Da denkt man schnell, es sei alles schon gesagt, gewusst. Aber diese Neuveröffentlichung aus dem Deutschen Tagebuch-Archiv in Emmendingen fügt der ganzen Weltkriegs-Welle noch eine vollkommen neue Note hinzu. Es sind Tagebuch-Auszüge von 35 Menschen aus ganz Deutschland und Österreich, Tag für Tag in immer neuen Ausschnitten zueinandergefügt, nach dem bewährten „Echolot“-Prinzip von Walter Kempowski.

Wer wusste denn, dass an jenem fatalen Samstag, 1. August 1914, die Preise für Mehl sprungartig von 20 auf 35 Pfennige gestiegen sind, dass sich schon am Vortag die Lebensmittelhändler weigerten, größere Vorräte auszugeben? Dass Banken und Sparkassen voller Menschen waren, die Geld abheben wollten?

"Hoffentlich gibt es ein Wiedersehen!"

Es ist nicht nur die Vielstimmigkeit, die den Vorzug dieser „Verborgenen Chronik“ ausmacht, die mit Ort und Namen erzählt, wie die Menschen (die Tagebuch schrieben, Arbeiter und Arme sind seltener vertreten als Unternehmer und Ärzte). Es ist auch die Atmosphäre einer Live-Reportage. „Feine Thronrede des Kaisers, Einigkeit mit den Sozialdemokraten,“ notiert einer und eine andere: „Man sieht schrecklich viele verweinte und ernste Gesichter, nagelneue Autos flitzen herum, Pferde und Leiterwagen, Möbelwagen werden herangeholt, viele Soldaten sind riesig vergnügt und freuen sich.“ Immer wieder „ungeheure Begeisterung bei Alt und Jung, nun wird nicht mehr gearbeitet, alles macht Feierabend, alle freuen sich, dreinzuschlagen.“

Festgehalten wird auch der Schutzmann, der die Meldung anschlägt, von der alle schon wussten, die aber jeder sehen wollte: „Alle waren erschüttert, jeder kannte ei­nen, der ins Feld musste.“ In dunkler Vorahnung schreibt eine Frau: „Wie schrecklich ist es, wenn man all das viele Verbandszeug sieht und weiß, dass man es braucht und die Verwundeten es nötig haben.“ Andere Frauen pressten verstohlen den Säbel ihres Liebsten an den Mund und notierten: „Hoffentlich gibt es ein Wiedersehen!“

Alltagsnöte und Kriegsbegeisterung

Der Grundton ist fast immer patriotisch, „gibt es einen Gott, so muss er uns seinen Schutz verleihen, denn ungerechter und grundloser ist wohl nie ein Krieg vom Zaun gebrochen worden.“ In den ersten Kriegstagen werden noch Erfolge notiert („Die Deutschen haben drei russische Städte gestürmt, hurra!“) oder das Außergewöhnliche: „Montag ist Notabitur.“ Manche glauben immer noch, dass der Kaiser den Frieden will, aber damit der einzige unter Europas Staatsoberhäuptern ist. Ein älterer Herr bedauert: „Wenn ich nicht ein Krüppel wäre, ginge ich auch mit.“ Ein 15-jähriges Mädchen bedauert, zu jung zu sein, um sich als Krankenpflegerin freiwillig melden zu können – und hofft darauf, wenigstens den Soldaten in vorbeifahrenden Zügen Getränke anreichen zu können.

Man darf bei alledem nicht vergessen, dass die Tagebücher, die ih­ren Weg ins Emmendinger Archiv fanden, mehr oder weniger zufällig überliefert sind, jedenfalls keinen repräsentativen Anspruch erheben können. In der Vielzahl der Stimmen aber wächst die Authentizität des Gesamtbildes. Es zeugt nicht von der geschichtlichen Wirklichkeit, sondern von ihrer Wahrnehmung, samt all den Irrtümern und Fehleinschätzungen, die im Chor dieser Stimmen nicht widerlegt werden. Der vorliegende Chronikband umfasst die ersten Kriegsmonate bis zum 1. Januar 1915, er ist einer von insgesamt drei geplanten. Und die Hörbuchausgabe hat den Vorzug, dass sie dazu nötigt, alles gleichberechtigt anzuhören, ohne dass man einzelne Passagen, Seiten oder ganze Kapitel nur überfliegt. Die Wirkung ist deshalb ungleich intensiver.

Lisbeth Exner und Herbert Kapfer: Verborgene Chronik. Hg. von Deutschen Tagebucharchiv. Galiani Verlag, 350 S., 24,99 €; Hörbuch: Gelesen von Meike Droste und Wolfgang Condrus, Der Hörverlag, 6 CDs, 462 min., 24,99 €