Ruhrgebiet. . Das Leben der Menschen an Rhein und Ruhr wurde zwischen 1914 und 1918 auf den Kopf gestellt: Schwerstarbeit, Hungersnot, Trauer. Dabei war anfangs der Wunsch nach Veränderung so groß gewesen. Wir erinnern an bewegende Schicksale von drei Frauen aus unserer Region.

Heutzutage zeigen Familienfotos Harmonie und Glück. Vater, Mutter, Kinder – alle lächeln. Der eine mehr, der andere weniger. Manchmal glaubt man, in einem Gesicht einen Charakter oder eine Stimmung erkennen zu können. Familien-Bilder, die in der Zeit des Ersten Weltkrieges entstanden, wirken anders. Das liegt an der Technik von damals, an langen Belichtungszeiten und fehlender Erfahrung der Fotografierten mit der Fotografie. Darüber hinaus scheinen diese Bilder auch andere Lebens-Geschichten zu erzählen. So das Foto von Karoline Kowalkowski, aufgenommen vermutlich im Jahr 1916. Eine zierliche Frau, Ende 20, und ihre sechs Kinder. Die Kleinen fein herausgeputzt, mit Halstüchern oder Schleife im Haar. Kein Lächeln ist zu sehen, nur tiefer Ernst. Der Vater ist nicht im Bild. Er kann nicht, er ist im Krieg.

Revier wird zur Heimatfront

Karoline, verheiratet seit 1906 mit dem Bergmann Johann Kowalkowski aus Gelsenkirchen, ist eine von zehntausenden Frauen im Ruhrgebiet, denen dieser große Krieg Gewalt antut. Die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts sucht nicht allein die Schlachtfelder heim, sondern jede Stadt und jedes Dorf. Auf einmal ist alles wie umgekrempelt. Der Lebensraum Kohlerevier verwandelt sich in eine „Heimatfront“.

Gerade erst sind Soldaten mit Blumen an den Gewehren durch Dortmund, Essen, Gelsenkirchen gezogen. Der Ausmarsch der Truppen hatte Volksfest-Charakter. Aber die Schlachten dauern länger als gedacht. Immer mehr Männer müssen raus, an die Fronten in West und Ost. Und wer bleibt im Revier? Wer macht die Maloche? Wer geht zur Zeche, zum Pütt? Es sind Frauen wie Karoline Kowalkowski und Anna Wischermann, die auf einmal schuften sollen wie die Kerle. Ausgerechnet in einer Gesellschaft, die ihnen bis dahin nur die Rolle des Heimchens am Herd zugestanden hatte.

Auch interessant

Anna Wischermann aus Bottrop, Jahrgang 1887, schiebt ab 1916 Kohlenwagen auf der Zeche Osterfeld. Ein Foto z eigt sie mit ihrer Schwester Maria (16) in Arbeiterkleidung. Ernste Mienen auch hier. Die Jüngere legt der Älteren eine Hand auf die Schulter. „Wir packen das“, könnte das heißen, oder: „Wir gehören zusammen.“ Die beiden teilen nicht nur die Wohnung, sondern auch ihr Schicksal als Industriearbeiterinnen.

Frauen litten unter widrigen Bedingungen in Rüstungsbetrieben

Der Bochumer Historiker Lucian Hölscher erzählt, dass diese Frauen unter unvorstellbarem Druck standen. Oft als Ernährerinnen großer Familien. „Ab 1916 mussten Zehntausende Frauen im Ruhrgebiet in der Schwerindustrie arbeiten, viele von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen. Sie litten Hunger, ihre Löhne waren niedrig. Nach dem Krieg wurden jene Männer, die zurückkehrten, bevorzugt wieder eingestellt. Die Frauen wurden sozusagen wieder ,zurück an den Herd’ geschickt. Für viele war das eine Enttäuschung.“

Eine Arbeiterin der Reichsbahn-Ausbesserungsstelle Recklinghausen erinnerte sich so an diese Zeit: „Bei Wind und Wetter mussten wir zwölf Stunden arbeiten . . . Die ersten Wochen hatten wir Blutblasen an den Händen . . . Im Winter war einmal in Baukau ein Militärgüterzug entgleist. Wir wurden vom Platzmeister geholt und mussten die Sachen vom entgleisten Zug in einen anderen umladen. Erst spät in der Nacht sind wir nach Hause gekommen. Und das alles für einen Lohn von 1,90 Mark am Tag – ich war ja erst 19 Jahre alt.“

Karoline Kowalkowski fängt 1915/16, kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes, als Tagesarbeiterin auf der Zeche Ewald 3/4 in Gelsenkirchen an. Anna Wischermann bringt ihren sechsjährigen Sohn bei Verwandten in Düsseldorf unter. Der andere, gerade drei Jahre jung, muss, mit Butterbroten versorgt, bis abends auf die Mutter warten.

Das Bild der Frau ändert sich im Ruhrgebiet 

Die Maloche unter Tage bleibt auch während des Krieges weitgehend Männersache. Aber das Revier kann sich dennoch allmählich an den Anblick von Frauen in verdreckten, groben Jacken und Hosen gewöhnen. An Damen, die fluchen, spucken, Zigaretten qualmen – eine kleine Revolution am westlichen Ende des Kaiserreiches. Der Historiker Lucian Hölscher sagt dazu: „Die Erfahrung der Industriearbeit trug dazu bei, dass sich die Rolle der Frau in den folgenden 1920er Jahren langsam veränderte. Man sah im Ruhrgebiet während des Krieges auf einmal rauchende Frauen. Arbeiterinnen, die sich einen Bubikopf schneiden ließen und auf das Korsett verzichteten. Der Wunsch der Frauen, mitreden zu können, wurde natürlich größer. Auch der Wunsch nach politischer Mitbestimmung.“

Aber von annähernd vergleichbaren Rechten, von politischer Mitsprache gar, sind Frauen wie Karoline Kowalkowski und Anna Wischermann weit entfernt. Sie sind der Anfang, nicht das Ende der Emanzipation. Ihr Ziel ist: Überleben.

Und das heißt im Ruhrgebiet, je länger dieser Krieg dauert: Kalorien organisieren. 1914/15 melden die Zeitungen im Ruhrgebiet und in ganz Westfalen: Es ist genug Brot für alle da. Aber die Menschen erkennen in den Läden und auf den Märkten einen beängstigenden Lebensmittel-Schwund.

Hamsterer aus dem Ruhrgebiet stürmen das Münsterland

Ab 1916 erlebt das Münsterland Woche für Woche eine Invasion der Revierbürger. Münsters Stadtarchivar Eduard Schulte beschreibt gespenstische Szenen: „Tagtäglich ergießt sich aus den Eisenbahnzügen ein gewaltiger Strom von Hamsterern über das platte Land. Frauen, Kinder und Greise drängen mit Körben und Koffern, Rucksäcken und Handtaschen danach, im Geschwindschritt sich den Vorsprung bei den Bauern zu sichern . . . Unter der Tragelast gebeugt, krumm und ächzend schleppen sich die zigeunerhaft zerlumpten Menschen zum Bahnhof, um dort nicht selten zu erleben, dass all ihr schweres Mühen durch die Beschlagnahme von Seiten der Gendarmen vergeblich gemacht wurde.“

Teile der Heimatfront flüchten sich angesichts der leeren Regale und der Wucherpreise in Bitterkeit und Sarkasmus. Es kursieren in Westfalen Schriften wie dieses „Kriegsglaubensbekenntnis“:

„Ich glaube an die Kohlrübe, die alleinige Ernährerin des deutschen Volkes, und an die Marmelade, die stammverwandte Genossin, empfangen vom Kriegsernährungsamt. Gelitten unter der Zentral-Einkaufs-Gesellschaft. Gesammelt, gepresst, niedergefahren zur Erde, am 3. Tage wieder auferstanden als Tafeläpfel . . . Ich glaube an den preußischen Landwirtschaftsminister und an die allgemeine Wuchergesellschaft, Gemeinschaft der Hamsterer, Erhöhung der Steuern, Verteuerung des Fleisches, Erfrieren der zurückgehaltenen Kartoffel und an einen ewigen Kriegszustand. Amen.“

Tagebucheintrag belegt die große Not der Bevölkerung 

Ein Tagebucheintrag der 16-jährigen Lisa Beuge aus Lüdenscheid lässt erahnen, wie nerven- und zeitraubend das Organisieren von Lebensmitteln spätestens nach dem zweiten Kriegsjahr im Ruhrgebiet und in Westfalen war: „Zuerst Brotmarken. Dann die Seifen-, Butter-, Fett-, Zucker-, Mehl-, Reis- und überhaupt alles-Marken. Für die anderen kleinen Teile die Verkaufskarten. Sonst bekommt man nichts. Es sind Lebensmittelhäuser eingerichtet. Wenn man zum Beispiel Butter haben will, muss man von 6 Uhr bis 4 Uhr nachmittags warten . . . Kartoffeln bekommt man überhaupt nicht mehr.“

Frauen arbeiteten in der Schwerindustrie, auf Poststellen, in Verkehrsbetrieben. Auch diejenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst erwirtschaften müssen, sollen ihren Beitrag leisten an der „Heimatfront“. Weit verbreitet ist das Herstellen, Sammeln und Verpacken so genannter „Liebesgaben“ für die Soldaten: Lebensmittel, Socken, Handschuhe, Tabak, Feuerzeuge . . .

Zu jenen Frauen, die sich patriotisch an der „Heimatfront“ engagierten, zählt Rebecca Hanf aus Witten. Auch sie sorgt dafür, dass die Soldaten „Liebesgaben“ aus dem Ruhrgebiet erhalten. Die Bankiers-Gattin gründet einen Jüdischen Frauenverein und sitzt im Vorstand des „Vereins Frauenwohl“ in Witten.

Frau stirbt an Folgen der auszehrenden Tätigkeit

Ihre Haltung zum Krieg ändert sich, als ihr Sohn in Frankreich fällt. Rebecca Hanf wird in den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges zu einer Friedensbotschafterin. 1918 notiert sie: „Nicht verloren gehen darf der Zukunft das Gedächtnis des Grauens, des Schreckhaften, Entsetzlichen, der Rohheit und Bestialität. . .“

Ihre Mahnung, aus dem Krieg zu lernen, ist umsonst. 21 Jahre danach beginnen die Nazis einen zweiten, noch schlimmeren Weltkrieg. Das Ruhrgebiet liegt an seinem Ende in Trümmern. Rebecca Hanf wird 1944 im Konzentrationslager Auschwitz vergast.

Karoline Kowalkowski wird gerade 30 Jahre alt. Sie stirbt am 1. November 1919, von der Arbeit entkräftet, an den Folgen der Spanischen Grippe. In ihrer Sterbeurkunde steht: „Bergarbeiterin“.

Anna Wischermann hat Glück. Sie überlebt Hunger und Schwerstarbeit, die Spanische Grippe, die Wirren der Nachkriegszeit und den Schrecken der Nazis.