Essen. . Europa 1914: Männer mit kühnen Bärten im Gesicht sitzen auf altmodischen Thronen, aber in der Kunst blüht schon die Moderne. Und man fragt sich: Gibt es Krieg? Versuch einer Annäherung an ein Jahr, das später fast nur noch als Rahmendatum einer Katastrophe wahrgenommen wurde.
Das Jahr 1914 beginnt so friedlich. In der Neujahrsausgabe des „Daily Chronicle“ kritisiert der britische Schatzkanzler Lloyd George die Rüstungspläne seines Marineministers Churchill. Für ihn gibt es keinen Grund, noch mehr Geld in die Rüstung zu stecken, denn in Europa seien nun friedliche Zeiten angebrochen: „Niemals ist der Himmel so blau gewesen wie jetzt“, sagt Lloyd George.
Wird es Krieg geben? Man weiß es nicht. Deutschland hat das Flottenwettrüsten gegen England verloren, jetzt vergrößert es sein Heer. Alle vergrößern ihr Heer. Manche sagen, dass Deutschland nach über 40 Jahren Frieden wieder Krieg braucht, damit es endlich ernst genommen wird. Für damalige Ohren klingt das plausibel. 1815, 1864, 1866 und 1871: Seit hundert Jahren hat Preußen jeden Krieg gewonnen, und aus jedem ist es gestärkt hervorgegangen.
Was macht England? Das ist die große Frage
Gut, Deutschland ist jetzt isoliert. Aber wie sehr, das ist die große Frage. Frankreich und Russland sind Gegner. Aber noch im März 1914 gibt es in Berlin und London Überlegungen für ein Bündnis. Erst als im April König Georg V. Paris besucht, verdichten sich die Signale, dass auch England für Frankreich in den Krieg ziehen würde. Oder blufft es? Wenn man wüsste.
Die Generalstabschefs in Berlin und Wien, Moltke und Conrad, dringen seit Jahren auf Präventivkrieg – und trauern 1914 einer verpassten Chance nach. 1912 und 1913 wären zwei balkanische Kriege fast zu einem europäischen geworden.
Erster Weltkrieg in Siegen
Aber dann siegte die Diplomatie. Kurz zuvor hatte die Sozialdemokratin Rosa Luxemburg öffentlich zum Ungehorsam aufgerufen. Jetzt, im Februar 1914, wird sie zu einem Jahr Haft verurteilt. Über diese Frau schütteln Deutschlands Nationalisten nur den Kopf. Auch die in der SPD natürlich.
Deutschland ist eine Monarchie in der Krise
Deutschland ist eine Monarchie in der Krise. Wilhelm II. wäre gern absoluter Herrscher, will alles selbst entscheiden. Das scheitert aber schon an seiner Sprunghaftigkeit. „Wilhelm der Plötzliche“ wird er von genervten Regierungsbeamten genannt. Noch schlechter ist sein Verhältnis zum Reichstag. „Elendes Pack“, sagt der Kaiser. „Militärdiktatur“ schimpfen die Abgeordneten.
Die Wirtschaft boomt, es herrscht Vollbeschäftigung. Aber mit der Industrie wachsen auch die dunklen und feuchten Hinterhof-Quartiere der Arbeiter. 1914 veröffentlicht Heinrich Zille seinen Bildband „Mein Milljöh“. Er lässt Kinder damit prahlen, dass sie Blut spucken können. Die SPD ist seit 1912 stärkste Fraktion im Reichstag – aber mit ihr reden? Das wäre Finis Germaniae. Sozialdemokraten muss man „abschießen, köpfen und unschädlich machen“, sagt der Monarch. Ja, so reden Majestät.
Schneidige Männer gegen alles Weibische
Es gibt jetzt Frauen an den Universitäten, und jeder fünfte Industriearbeiter ist ebenfalls Frau. Falls es die Männer verunsichert, parieren sie es mit verschärfter Männlichkeit. Unter ihren Nasen wachsen eitle Bartgebirge. Es hilft ihnen kühn, tatkräftig und mächtig auszusehen, vom Kaiser hinunter bis zu Franz Kafkas tyrannischem Vater. „Schneidig“ sagt man. Das Gegenteil davon wäre „weibisch“, aber weibisch sind die Franzosen. Man staunt nur, wie schwach die Nerven der Helden in Wahrheit sind. Etwa Moltke: Kaum beginnt der Krieg, wird er im Hauptquartier heulend zusammenbrechen.
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Ab Januar 1914 erscheint „Der Untertan“ von Heinrich Mann – als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift. Es ist ein Drama, dass der Krieg schneller kommen wird, als die Geschichte gedruckt werden kann. Denn darin steht schon damals alles zum Thema.
In der Kunst triumphiert die Moderne
Politisch ist Europa 1914 ein Hort der Restauration. Doch Intellektuelle aller Glaubensrichtungen wittern das Ende der alten Welt und die Geburt einer irgendwie neuen. Die Reformbewegung hat Reformkleidung und Reformhäuser erfunden, den Wandervogel und FKK. Und Rudolf Steiner hastet 1914 von Vortrag zu Vortrag und propagiert die anthroposophische Gesellschaft.
Aber nirgends ist die neue Zeit schon so weit wie in der bildenden Kunst. 1914 ist das Jahr, in dem Marcel Duchamp in Paris ein Abtropfgestell kauft und als „Skulptur“ ins Atelier stellt. In Berlin malt Kirchner Huren mit grünen Gesichtern, in München malt Marc eckige Rehe.
Und auch in der Architektur triumphiert 1914 die Moderne. Im Mai öffnet in Köln die erste Werkbundausstellung. Architekten wie van de Velde und Gropius zeigen dort, wie sie jetzt bauen: schmucklos, glatt, rational. Und sie haben in Industrie und Kommunen begeisterte Förderer. In Köln ist es der Erste Beigeordnete der Stadt, ein Dr. Adenauer.
Warten und Warten in Wien
Vor allem aber wartet in Wien etwas Neues darauf, etwas sehr Altes endlich abzulösen. Seit 66 Jahren regiert hier Kaiser Franz Joseph. Ein Fossil, der Welt entrückt, unfähig, dem Habsburgerreich die Reformen zu geben, die es braucht. Sein Neffe (auch schon 50) will endlich regieren.
Er hat Pläne: Er will die ungarische Reichshälfte neu ordnen, die Zentralverwaltung in Budapest schwächen und den Völkern in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan mehr Autonomie geben. Den Separatisten dort und den Kriegstreibern hier wird er damit den Wind schon aus den Segeln nehmen, da ist sich Franz Ferdinand sicher. Im Juni bricht er zu einer Reise nach Bosnien auf.