Essen/Istanbul. Der türkische Ministerpräsident hat den Zugang zum Nachrichtendienst Twitter gesperrt. Das Verbot hat seine Wirkung verfehlt. Die Türken twittern weiter, unter ihnen auch Staatspräsident Abdullah Gül. Erdogan wollte Stärke demonstrieren, gezeigt hat er nur seine Verzweiflung. Ein Kommentar.

Erdogan beweist Stärke, demonstriert seine Macht, zeigt, dass er die einzig übriggebliebene moralische Instanz ist in einem Land voller Plünderer (so hatte Erdogan die Demonstranten während der Gezi-Proteste 2013 genannt). Er ist der Wächter über Anstand und Respekt in einer Nation, die im Sumpf des Internets zu versinken droht, in dem es möglich ist, Nachrichten, Fotos und Videos zu verbreiten, die nicht zuvor genehmigt wurden - und daher nicht genehm sind. Recep Tayyip Erdogan kann das Internet zwar nicht mit Tränengasgranaten bombardieren, aber er kann es kontrollieren - meint er.

Falsch! Alles falsch!

Erdogan beweist keine Stärke, er zeigt seine Verzweiflung. Erdogan ist längst keine moralische Instanz mehr, er verhält sich zunehmend wie ein politischer Radikaler. Und trotzdem kann auch er das Netz nicht kontrollieren. Bereits wenige Stunden nach der Twittersperre fanden viele der mehr als zehn Millionen Twitternutzer in der Türkei einen Weg ihre Nachrichten trotzdem abzusenden. Unter ihnen ist auch ein besonders prominenter Türke. Staatspräsident Abdullah Gül. Er twitterte: „Der Bann des Kurznachrichtendienstes ist inakzeptabel“.

Manch einer mag das als ein positives Signal interpretieren. Eines das zeigt, dass in der türkischen Regierung Hopfen und Malz doch noch nicht verloren ist.

Leider auch falsch!

Der Vorgang ist allerdings nur ein weiterer symbolischer Akt in einem Machtkampf einstiger Weggefährten. Zwischen Erdogans Partei AKP und der Gülen-Bewegung. Staatspräsident Gül soll eben dieser global vernetzten, einflussreichen islamischen Bewegung nahestehen, die sich selber das Etikett tolerant und weltoffen auf die Fahne schreibt. Die Gülen-Bewegung hat Erdogan jahrelang unterstützt und ihm Wählerstimmen verschafft. Das Ziel dabei war die Demontage der kemalistischen Vorherrschaft in Staat und Militär. Hand in Hand haben Erdogan und Gülen dieses Ziel erreicht.

Inzwischen allerdings tobt ein heftiger Machtkampf zwischen den einstigen Verbündeten. Die Twittersperre ist nur ein weiteres Kapitel in diesem Konflikt, weil Erdogans Gegner vor allem über diesen Nachrichtendienst zuletzt immer wieder Material veröffentlichten, das die Regierung in Erklärungsnot brachte. Es geht um die Deutungshoheit. Die türkische Presse hat Erdogan an die Ketten gelegt, was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Wer dem Regierungschef nicht genehm ist, wird verhaftet. Nirgendwo auf der Welt sitzen so viele Journalisten im Gefängnis wie in der Türkei. Staatsanwälte, Richter und Polizisten wurden zu Tausenden versetzt, weil sie es wagten in der Korruptionsaffäre zu ermitteln.

Kampf um Meinungsfreiheit und Gerechtigkeit

Eines dürfte beiden machthungrigen Konfliktparteien aber ein Dorn im Auge sein: Die junge, dynamische türkische Bevölkerung. Hunderttausende trotzten immer wieder den Tränengasgranaten, sie lassen es sich nicht gefallen, dass die Regierung entscheiden will, wie sie zu leben haben, sie sehnen sich nach Meinungsfreiheit, nach Gerechtigkeit, nach Mitbestimmung. Dabei lassen sie sich bisher auch von keinem vor den Karren spannen. Nicht von Fethullah Gülen und nicht von den Oppositionsparteien.

Die Türkei ist in einer Umbruchphase, die im vergangenen Jahr begonnen hat und jetzt weiter Fahrt aufnimmt. Wohin diese Nation auch steuert, wer auch diesen Machtkampf gewinnen wird, die wichtigste Aufgabe wird sein, die vielen Konfliktparteien in der Türkei zu befrieden. Ansonsten droht das Land am Bosporus weit von seinem Anspruch abzukommen, eine starke demokratische Nation zu sein.