Düsseldorf/Essen. . Es gibt weniger kriminelle Jugendliche in NRW, sagt der Justizminister. Aber es gibt eine beängstigende Entwicklung: Junge Straßenräuber werden immer brutaler. Sie schlagen erst zu und holen sich dann die Beute. Die Gerichte sind völlig überlastet. Nicht selten dauert es ein Jahr, bis die Verhandlung beginnt.

Immer weniger Jugendliche in NRW werden straffällig. Das ist die gute Nachricht von NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD). Weniger junge Täter, weniger Verurteilungen. Was die Statistik nicht zeigt: Immer öfter haben es Opfer und Polizeibeamte mit extrem brutalen Tätern zu tun. Mit Straßenräubern, oft kaum älter als 16, die erst zuschlagen und dann Geld oder Handy fordern. In vielen Fällen handelt es sich um so genannte „Intensivtäter“. „Sie machen nur fünf bis zehn Prozent aller jungen Täter aus. Aber sie begehen 50 Prozent aller Straftaten ihrer Altersgruppe“, so der Minister.

Die 49-jährige Frau, die in Rheinhausen in ihr parkendes Auto steigen will, hätte wohl sowieso keine Chance gehabt, sich zu wehren. Aber die beiden Räuber stoßen sie dennoch zu Boden, ziehen sie zu einem Baum und schlagen ihren Kopf mehrmals gegen den Stamm. Dann entreißen sie ihrem Opfer die Handtasche. In Essen geht eine Gruppe Jugendlicher auf zwei 14-Jährige los. Einer zieht ein Messer und schlägt auf die Köpfe der Jungen ein. Beute: Geld und Handys. In Gelsenkirchen will eine 71-Jährige fünf Jugendliche ermahnen, die in einer U-Bahn-Station randalieren. Die jungen Leute – wohl nicht älter als 14 – bedrängen, beleidigen, bespucken die Rentnerin. Ihre Tasche nehmen die Täter mit.

"Heute sitzen gleich die Fäuste locker"

Aktuelle Beispiele wie diese häufen sich. „Die Intensität der Gewalt nimmt zu“, sagt Lars Lindemann von der Polizei Essen. In Hamm gibt es seit Anfang Dezember eine Serie von Raubüberfällen auf offener Straße. Mehr als 30-mal schlagen meist junge Täter zu. Die Polizei fährt verstärkt Streife und rät den Bürgern, abgelegene Orte zu meiden. In Duisburg ging die Zahl der Straßenraub-Delikte in den letzten Wochen zurück. Dennoch bestätigt Polizeisprecherin Daniela Krasch, das sich das Verhalten der Täter ändert: „Früher wurde das Opfer nur umzingelt. Heute sitzen gleich die Fäuste locker.“

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Mehr Gewalt bei Straßenkriminalitätsdelikten beobachtet auch die Organisation „Weisser Ring“, die Opfer von Straftaten betreut. „Zum Teil wird noch zugetreten, wenn das Opfer wehrlos am Boden liegt“, sagt Sprecher Veit Schiemann. Immer öfter würden Gegenstände als Waffe benutzt. Diese Gewalt hinterlasse nicht nur körperliche Schäden, so Schiemann: „Sie sorgen bei den Opfern auch für immense seelische Probleme.“

Täter in der Mehrheit der Fälle nicht gefasst

Die Täter dagegen werden in der Mehrheit der Fälle nicht gefasst. Die Polizei in NRW ermittelte 2012 in 39,5 Prozent aller Straßenraub-Delikte einen Tatverdächtigen. Fast zwei Drittel von ihnen waren unter 21 Jahre alt.

Ob ein Tatverdächtiger angeklagt und verurteilt wird, ist eine ganz andere Frage. Wilfried Albishausen, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in NRW bemängelt, dass es häufig ein Jahr dauere, bis die Betroffenen in einem Straßenraub-Delikt zur Verhandlung vorgeladen würden. „Oft können sich Zeugen nach so langer Zeit nicht mehr an die Details erinnern“, gibt Wolfgang Spies von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) zu bedenken.

In nicht allzu schwerwiegenden Verfahren und bei klarer Sachlage dauere es normalerweise drei bis sechs Monate, bis ein Gericht in erster Instanz eine Entscheidung fälle, sagt dagegen Christian Friehoff, Geschäftsführer des Bundes der Richter und Staatsanwälte in NRW. „Wie lange es dauert, bis in einem Ermittlungsverfahren Anklage erhoben wird, hängt vom Einzelfall ab. Entscheidend ist die Schwere des Vorwurfs und wie eindeutig die Beweislage ist.“ Begleitumstände könnten in Einzelfällen dazu führen, dass es über ein Jahr und länger dauert, bis ein Fall vor Gericht komme. Je länger ein Fall zurückliege, umso mehr verblasse die Erinnerung. „Die Betroffenen werden aber zeitnah nach einer Tat von der Polizei vernommen und die Aussagen liegen ja dann bei Gericht vor“, relativiert Friehoff.

„In NRW fehlen 500 Richter“

Generell seien die Gerichte in NRW aber überlastet, berichtet er. „Hier fehlen 500 Richter und bis zu 200 Staatsanwälte.“ Im Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm arbeite man im Schnitt über 50 Stunden in der Woche — statt der offiziellen 41 Stunden.

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Es gibt Modellprojekte, die Intensivtäter erstens schneller vor Gericht bringen und zweitens die kriminellen Karrieren von Heranwachsenden beenden. Das „Haus des Jugendrechts in Köln“ gehört dazu. Hier arbeiten Polizei, Jugendamt und Staatsanwaltschaft eng zusammen. Die Zahl der jungen Intensivtäter sank um rund ein Drittel. In Duisburg gibt es seit 2007 ein vergleichbares Intensivtäterkonzept, ebenso in Gelsenkirchen. „Leider sind Projekte wie das in Köln in NRW die Ausnahme“, sagt Wolfgang Spies von der GdP.

Im Jahr 2012 zählte die Polizei Essen 600 Fälle von Straßenraub. Drei von vier Tätern hatten die deutsche Staatsangehörigkeit.

Wie relativ der Rückgang bei der Jugendkriminalität zu sehen ist, sagte Minister Kutschaty übrigens auch: „Die Verurteilung Jugendlicher wegen Gewaltdelikten ist bezogen auf die letzten 20 Jahre um das Zweieinhalbfache gestiegen.“

Die Polizei rät: Kopfhörer ab und dunkle Orte meiden

  • Für Bochum, Witten und Herne stellt die Polizei eine leichte Zunahme der Straßenraubdelikte im vergangenen Jahr fest.
  • In Essen meldet die Polizei beim Straßenraub für Januar bis November 2013 zehn Prozent mehr Fälle gegenüber dem gleichen Vorjahres-Zeitraum.
  • Duisburg hält positive Zahlen bereit: Im Dezember 2012 gab es 40 Fälle von Straßenraub, vergangenen Dezember nur 24 Fälle.
  • 2012 waren bundesweit 93,2 Prozent der Straßenräuber Männer, sagt Andreas Mayer von der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes. Straßenraub ist ein typisches Großstadtdelikt.
  • Anne Providence (Polizei Hamm) rät dazu, dunkle und abgelegene Orte zu meiden. Nachts sollte man nicht allein oder alkoholisiert nach Hause gehen, sondern mit dem Taxi oder mit dem Bus fahren.
  • Ein neues Phänomen: Oft bemerken Opfer die Gefahr zu spät, weil sie Kopfhörer tragen und Musik hören.