Kairo. . Bei Kämpfen zwischen islamistischen Mursi-Anhängern und Oppositions-Kräften kamen Dutzende Menschen ums Leben, tausende wurden verletzt. Die politische Zukunft des Landes ist völlig offen. Der als liberal geltende Friedensnobelpreisträger El-Baradei wird auf Druck von Salafisten nicht Ministerpräsident.

In Ägypten hat die Bildung einer Übergangsregierung gleich zu Beginn einen schweren Rückschlag erlitten. In der Nacht zu Sonntag musste Interimspräsident Adly Mansour die Nominierung des liberalen Friedensnobelpreisträgers Mohamed El-Baradei für den Posten des Ministerpräsidenten zurückziehen und seine Vereidigung absagen. Quergelegt hatte sich die salafistische Al-Nour-Partei, die sich bei dem Militärputsch dem Anti-Mursi-Lager angeschlossen hatte.

„Eine Berufung Baradeis verletzt den Fahrplan, den die politischen und nationalen Kräfte vereinbart haben“, erklärte Parteichef Ahmed Khalil. „Meine Partei wird sich aus der Allianz zurückziehen, falls Baradei vereidigt wird.“ Ein anderes ranghohes Parteimitglied fügte hinzu, El-Baradei sei ein Technokrat und nicht in der Lage, die Spaltung auf den Straßen zu überwinden.

Für Sonntagabend riefen die Anhänger Mursis und der Oppositionsbewegung Tamarod die Ägypter erneut zu neuen Massenprotesten auf. Seit dem Militärputsch am Mittwochabend sind bei blutigen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis bisher mindestens 37 Menschen getötet und mehr als 1400 verletzt worden. Zu den schwersten Gewalttaten kam es auf der Kairoer Insel Roda im Stadtteil Manial. Dort verschanzten sich bärtige Scharfschützen der Islamisten auf dem Dach einer Moschee am Nilufer und feuerten auf die Anwohner, die ihnen zuvor den Durchmarsch zum Tahrir-Platz versperrt hatten.

El Baradei will nicht von einem Staatsstreich sprechen

Grund für den Widerstand der Salafisten gegen Mohamed El-Baradei, den früheren Chef der Wiener Atomenergiebehörde IAEO, ist offenbar die Angst, in konservativen islamistischen Kreisen der Bevölkerung an Rückhalt zu verlieren. Die Al-Nour-Partei hatte bei den Parlamentswahlen 2011 ein Viertel aller Stimmen bekommen und kontrollierte zusammen mit den Muslimbrüdern in der Volksvertretung Ägyptens nahezu drei Viertel aller Mandate.

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Die künftige Übergangsregierung soll die vom Militär ausgesetzte Verfassung überarbeiten und Neuwahlen des Präsidenten und des Parlaments vorbereiten. El-Baradei plädierte in einem Interview des „Spiegel“ dafür, spätestens in einem Jahr neu zu wählen. Wie zuvor in seinem Interview mit der BBC verteidigte er erneut das Vorgehen der Streitkräfte gegen Mursi, der autoritär regiert und gegen den Geist der Demokratie verstoßen habe. Die Entscheidung zum Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten sei schmerzlich gewesen. „Sie war außerhalb des legalen Rahmens, aber wir hatten keine andere Wahl“, sagte E-Baradei, der nicht von einem Putsch oder Staatsstreich sprechen wollte.

Auch die USA als wichtigster Geldgeber der ägyptischen Armee vermeiden offiziell den Begriff Putsch. Anderenfalls müssten sie die jährliche Militärhilfe von rund 1,3 Milliarden Dollar beenden, mit der Ägyptens Streitkräfte rund 80 Prozent ihrer Ausrüstung finanziert. US-Präsident Barack Obama verurteilte die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis.

Der russische Präsident Wladimir Putin sieht Ägypten auf dem Weg in den Bürgerkrieg. Das Land sei dabei, Syrien in einen solchen Konflikt zu folgen, sagte Putin nach Angaben der Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Außenminister Guido Westerwelle will die weitere Unterstützung für Ägypten von demokratischen Fortschritten abhängig machen. Die bisherigen Errungenschaften der Revolution wie Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht und Schutz vor staatlicher Willkür dürften jetzt nicht preisgegeben werden, sagte Westerwelle in Berlin.

Das Viertel Manial erlebte einen Alptraum.

Die sechsspurige Gamaa-Brücke über den Nil ist immer noch mit Steinen übersäht, verkohlte Autoreifen liegen auf dem Asphalt. Am Nilufer thront die Salaheddine Moschee im Sonnenschein, während vor ihr auf dem Wasser Fischerboote dümpeln. Die Nilinsel Roda ist normalerweise ein beschaulicher Ort mit schattigen Wohnstraßen und gemütlichen Teehäusern. In der Nacht zu Samstag jedoch erlebte das Viertel Manial einen Alptraum. Bis in die frühen Morgenstunden hallten Schüsse durch die Hausreihen. Wie Anwohner später berichteten, hatte sich eine Handvoll bärtiger Scharfschützen Zugang zum Dach der Moschee verschafft und nahm von oben wahllos Passanten auf dem belebten Vorplatz unter Feuer. Unten gingen Komplizen mit Maschinenpistolen, Macheten und Messern auf die Menschen los.

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Ausgelöst worden waren die Straßenkämpfe, als eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter Muslimbrüder von ihrem Lager vor der Kairo-Universität in Giza versuchte, über die Gamaa-Brücke auf das rechte Nilufer zu kommen, um an der amerikanischen Botschaft vorbei zum Tahrir-Platz zu marschieren. Als sich Einwohner von Manial ihnen entgegenstellten, eröffneten sie das Feuer. „Das Schießen ging bis morgens früh um drei, als wenn denen niemals die Munition ausgehen würde“, sagte später einer der Augenzeugen.

Polizei und Armee seien weit und breit nicht zu sehen gewesen. „Fünf Stunden lang ist uns niemand zur Hilfe gekommen“, klagte der Anwohner. Seitdem sind Hausfassaden mit Einschusslöchern übersäht. Mindestens zwölf Menschen starben, sechs von ihnen durch gezielte Kopfschüsse – die bisher schwersten Straßenkämpfe in einem normalen Wohnviertel der ägyptischen Hauptstadt. An Rodas Südspitze liegt das berühmte Nilometer, was in früheren Zeiten die Pegelstände maß. Hier steht auch das kleine Museum der ägyptischen Sängerinnen-Ikone Umm Kulthum, mit Fotos von Konzerten, Schallplatten und einer Auswahl ihrer Abendkleider.

Beide Lager kündigen Großdemonstrationen an

Tausende geschockte Bewohner folgten am Wochenende dem Trauerzug für ihre getöteten Angehörigen und Freunde. „Die Muslimbrüder sind die Feinde Allahs“ skandierte die Menge und „Wer wird uns die Rechte für unsere Kinder zurückgeben?“ Den meisten stand das Entsetzen über das Geschehene noch im Gesicht. Die Geschäfte blieben geschlossen, an einem Laden hing ein Zettel für die Kundschaft, der 26-jährige Besitzer Abdallah Sayyed Abdelazim sei ebenfalls unter den Toten. Nach Schilderungen der Leute begann der Angriff Minuten nachdem der Chef der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie, am Freitagabend im anderen Protestcamp der Islamisten rund um die Rabaa al-Adawiya Moschee in Nasr City die Menge mit einer Brandrede aufgewiegelt hatte. „Sie behandelten uns wie Ungläubige, sie riefen ,Allah ist groß’, während sie gleichzeitig auf uns schossen“, zitierte AFP einen der Überlebenden. Ein Sprecher der Muslimbruderschaft dagegen bestritt, die Angreifer seien aus ihren Reihen gewesen. „Die Führer des Militärcoups wollen unser Ansehen beschmieren, indem sie Leute aus dem Sicherheitsapparat einsetzen, um auf Protestierende zu schießen“, sagte er.

Auch für Sonntagabend haben beide Lager ihre Anhänger wieder zu Großdemonstrationen aufgerufen. Derweil verlieren Armee und Polizei immer mehr die Kontrolle über den Sinai. Bewaffnete zerrten am Samstag einen koptischen Priester aus seinem Auto, der gerade Lebensmittel einkaufen wollte, und erschossen ihn mit einer Salve aus einem Sturmgewehr.

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Zuvor hatten in der Provinzstadt El Arish auf dem Nordsinai radikale Islamisten den Sitz des Gouverneurs mit Maschinengewehren und Panzerfäusten erobert und die schwarze Al-Qaida-Flagge über dem Gebäude gehisst. Im Internet meldete sich eine neue Extremisten-Gruppe mit Namen „Ansar al-Sharia“ zu Wort. Man sammele Waffen und habe mit der Ausbildung der Mitglieder begonnen. Mohammed Mursis Absetzung, die Schließung von islamischen Satellitensendern und der Tod von islamistischen Demonstranten laufe auf eine Kriegserklärung gegen den Islam in Ägypten hinaus, hieß es in ihrem Gründungsmanifest. Säkulare Gruppen, Anhänger des früheren Präsidenten Hosni Mubarak, koptische Christen, Sicherheitskräfte und das Militär seien für die neue Situation verantwortlich. Sie verwandelten das Land in „einen Kreuzritter und ein weltliches Monster.“