Kairo. . Die Lage zwischen dem islamistischen und dem säkularen Lager in Ägypten spitzt sich zu. Die islamistischen Muslimbrüder scharen jetzt Menschenmassen um sich. Sie wollen die Straßen und Plätze nicht allein der „Tamarod“-Bewegung überlassen. In Kairo und anderen Städten kam es zu Unruhen.
Zwischen Gegnern und Anhänger des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi ist es zu Zusammenstößen und Schusswechseln mit Dutzenden Verletzten gekommen. Die jüngsten Unruhen begannen am Dienstagabend am Rande der Hauptstadt Kairo, als Unterstützer des Präsidenten in Richtung Universität marschierten, wie es aus Sicherheitskreisen hieß.
Auch in der zweitgrößten Stadt Alexandria und in der nordöstlich von Kairo gelegenen Stadt Banha habe es Feuergefechte gegeben. In Kairo seien mindestens 15 Menschen verletzt worden, hieß es aus Sicherheitskreisen.
In Alexandria wurden nach Krankenhausangaben mindestens 33 Menschen verletzt. Aus Banha lagen zunächst keine Angaben vor. Bis Montag hatten die Unruhen in Ägypten nach Regierungsangaben mindestens 16 Menschen das Leben gekostet, Hunderte wurden verletzt.
Nasr City ist zum Mursi-Land geworden
Tausende Islamisten haben sich in der Enklave rund um die Raba al-Adawiya Moschee in Nasr City eingeigelt. Junge Männer postieren sich als islamistische Bürgerwehr – mit Bauhelmen, Eisenrohren und Bambusknüppeln. Backbleche zu Kampfschildern umgebaut liegen griffbereit am Boden. Viele lesen in Taschenkoranen. Seit vier Tagen ist hier Mursi-Land und alle verstehen die Welt nicht mehr.
„Seit wann entscheidet die Straße, ob ein Präsident zurücktreten muss? Ist das Demokratie? Wir haben eine Verfassung, die regelt den Machtwechsel“, schimpft Mustafa Badrin, der an einem prallen Jutesack gefüllt mit getrockneten Datteln lehnt. Der 54-Jährige ist Agraringenieur, gehört seit dreißig Jahren zur Muslimbruderschaft, hat alles miterlebt von Gefängnis, Geldstrafen bis zu Berufsschikanen und Geheimdienstverhören.
Auch interessant
Frankreichs Präsident François Hollande habe die schlechtesten Zustimmungsraten aller Zeiten, argumentiert er. Niemand aber käme in Paris auf die Idee, nach Neuwahlen zu rufen.
Die politische Stimmung wechselt
Seit dem Ultimatum der ägyptischen Armeeführung, das am Mittwoch um 17 Uhr ausläuft, hält ganz Ägypten den Atem an. Und bereits nach Ablauf der ersten Hälfte der brisanten 48 Stunden ist klar, das verbale Muskelspiel der Generäle wird die verfeindeten Lager nicht so bald zur Vernunft bringen. Vielmehr wechselt die politische Stimmung in der Stadt so schnell wie das Wolkenbild am Kairoer Himmel.
Auch interessant
Kaum hatte der Militärsprecher am Montagnachmittag sein Vier-Absätze-Kommuniqué im Staatsfernsehen verlesen, verwandelte sich der Tahrir-Platz in ein Jubelmeer. Die Rebellen der „Tamarod“-Bewegung sahen den Sieg über den verhassten Präsidenten schon zum Greifen nahe. Um fünf Uhr in der Früh kam dann die Retourkutsche aus dem Koba-Palast, wo sich der Staatschef im Schutz der Republikanischen Garden momentan aufhält. Der Präsident werde sich dem Ultimatum nicht beugen. Die Erklärung der Armee sei nicht mit ihm abgesprochen und er beharre auf seinem eigenen Weg, die Krise zu lösen.
Minister suchen das Weite
Gleichzeitig begannen die Muslimbrüder, ihre Anhänger aus dem ganzen Land zusammenzutrommeln. „Wir brauchen nur mit den Fingern zu schnippen und haben Millionen auf den Beinen“, sagt ein junger Lehrer. Provoziert hat Mursis Anhänger vor allem der eine Satz von Oberbefehlshaber General Abdel Fattah al-Sissi, die Massenproteste am Sonntag seien ein „beispielloser Ausdruck des Volkswillens“ gewesen. Nun wollen sie mit eigenen Millionenmärschen dagegenhalten.
Keiner weiß, ob es am Ende einen Sieger gibt. Mursis Minister suchen in Scharen das Weite, am Dienstag kündigte auch der Präsidentensprecher. Man unterschätze nicht das Ausmaß der Proteste, hatte dieser noch bei seinem letzten Auftritt zähneknirschend erklärt. Der Präsident aber werde nicht zurücktreten.
Seine treuen Anhänger im kleinen Mursi-Kosmos in Nasr City reden sich den historischen Volksprotest vom letzten Sonntag weiterhin klein. „Der größte Fehler von Mursi – er war zu weich und zu nachgiebig mit dem alten Mubarak-Gesindel“, sagt der Lehrer Mohamed Sayyed. Nein, zum Tahrir-Platz gehe er nicht. „Wie kann ich dort unter diesen Mubarak-Fans stehen, die während der Revolution meine Brüder getötet haben?“ Und nach einer kurzen Atempause fügt er hinzu: „Wir müssen endlich alle diese Plätze säubern.“ (mit dpa)