Ankara. . Die türkische Regierung hat sich am Wochenende mit den schwersten Protesten seit einem Jahrzehnt konfrontiert gesehen. Tausende gingen landesweit auf die Straße, nachdem es im Streit um ein Stadtentwicklungsprojekt in Istanbul zu Straßenschlachten gekommen war. Doch Ministerpräsident Erdogan zeigt sich wenig beeindruckt.

Auch in Nordrhein-Westfalen haben am Wochenende Hunderte Menschen gegen die Regierung in Ankara protestiert und ihre Solidarität mit den Demonstranten in der Türkei bekundet. Die Alevitische Gemeinde in Deutschland verlangte den Rücktritt der islamisch-konservativen Regierung. "Gesellschaftliches Engagement ist evidenter Teil der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit und darf nicht mit Gewalt bekämpft werden", hieß es in einer Erklärung der alevitischen Dachorganisation AABF. Mehrere hundert Menschen waren dem AAFB-Aufruf gefolgt und am Samstagabend vor dem Kölner Dom zusammengekommen. Die Demonstration verlief nach Polizeiangaben vom Sonntag friedlich.

Auf Plakaten verlangten Kundgebungsteilnehmer ein Ende des "Staatsterrors" und "Stopp Police Brutality". Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan müsse zurücktreten. Die türkische Regierung gehe repressiv gegen die eigene Bevölkerung vor und versuche, die Stimme des Volkes zu "eliminieren", kritisierten die Aleviten, eine liberal-islamische Glaubensgemeinschaft. Hierzulande leben rund 750 000 Aleviten.

Viele sehen Erdogan auf dem Weg zum autoritären Regime

Viele türkische Flaggen waren auch in Bielefeld zu sehen. Am Samstagvormittag demonstrierten zunächst rund 100 Menschen gegen die Erdogan-Regierung. Ein Demonstrationszug in Richtung Bahnhof und eine Kundgebung am Abend mit rund 200 Teilnehmern verlief laut Polizei ohne Zwischenfälle. Aufgerufen hatte ein türkischer Ortsverein, der ab Montag auch tägliche Mahnwachen organisieren will.

In Duisburg folgten einige Dutzend Leute einem Facebook-Aufruf und zeigten sich ebenfalls solidarisch mit den Demonstranten in der Türkei. Dort hat die Protestwelle gegen die Erdogan-Regierung inzwischen viele Städte erfasst. Die Politik der konservativen Regierungspartei wird von den Demonstranten als immer autoritärer empfunden.

Proteste in der Türkei dauern an - Erdogan zeigt sich unbeeindruckt 

Bei den seit Freitag anhaltenden landesweiten Protesten gegen die türkische Regierung sind nach Angaben von Innenminister Muammer Güler mehr als 1700 Menschen festgenommen worden. Die überwiegende Mehrheit sei nach Überprüfung ihrer Papiere und kurzer Befragung wieder freigelassen worden, zitierte die Nachrichtenagentur Anadolu am Sonntag den Minister.

Die Türkei wird seit dem Wochenende von den schwersten Protesten seit einem Jahrzehnt erschüttert. Diese hatten ursprünglich am Dienstag mit Kundgebungen gegen ein Stadtentwicklungsprojekt in Istanbul begonnen. Nach einem als unverhältnismäßig kritisierten Einsatz der Polizei nahmen sie inzwischen aber eine allgemein regierungskritische Wendung und weiteten sich auf das ganze Land aus. Laut Güler wurden seit Dienstag 235 Kundgebungen in 67 Städten registriert.

Die Umgebung des Istanbuler Taksim-Platzes bot nach den Straßenschlachten der letzten Tage ein Bild der Verwüstung: Steine, Barrikaden und ausgebrannte Au­tos zeugen von den gewalttätigen Unruhen. Nachdem sich die Polizei am Samstag auf Weisung von Innenminister Güler zurückgezogen hatte, nahmen Hunderte Demonstranten den Platz wieder in Besitz. Ministerpräsident Tayyip Erdogan zeigt sich zwar gesprächsbereit, will sich aber durch die Proteste nicht von seinem Kurs abbringen lassen – und gerät unter wachsenden Druck.

Begonnen hatte alles vergangene Woche mit einem friedlichen Protest von etwa 50 Mitgliedern einer Bürgerinitiative gegen geplante Rodungen im Gezi-Park am Taksim-Platz, wo Erdogan eine Militärkaserne aus ottomanischer Zeit rekonstruieren lassen will. Dort sollen Cafés und Geschäfte unterkommen.

Wasserwerfer und Schlagstöcke

Als die Polizei die Demonstranten mit Wasserwerfern, Schlagstöcken, Tränengas und Pfefferspray vertrieb, wuchs die Protestwelle schnell an und griff auf den benachbarten Stadtteil Besiktas über, wo Erdogan sein Büro unterhält. Am Samstag gab es Demonstrationen in weiteren Städten des Landes. Die bisherige Bilanz der Unruhen laut Innenminister Güler: 939 Festnahmen bei über 90 Demonstrationen in 48 Provinzen, 79 Verletzte.

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Premier Erdogan räumte inzwischen „Fehler“ beim Polizeieinsatz ein und kündigte eine Untersuchung an. Trotzdem wird er zur Zielscheibe der Proteste. Sie richten sich gegen seinen autoritären Regierungsstil und die von vielen weltlich orientierten Türken empfundene Bevormundung durch die islamisch-konservative Partei AKP

Erdogans „geheime Agenda“

Ein Berater Erdogans teilte über Twitter mit, der Istanbuler AKP-Bürgermeister werde mit Vertretern der Bürgerinitiative zusammenkommen, um über eine Lösung in dem Streit um die Bebauung des Parks zu sprechen. Am Freitagabend hatte ein Istanbuler Gericht einen Baustopp für das Vorhaben angeordnet. Dadurch will sich Erdogan aber nicht beirren lassen. Er bezeichnete den Gerichtsentscheid als „fragwürdig“ und bekräftigte, er werde an dem umstrittenen Vorhaben festhalten.

Unter dem seit 2003 regierenden Erdogan erlebte die Türkei eine wirtschaftliche Blüte. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdreifacht – aber auch die Größe des so genannten „Sicherheitsapparats“. Die EU und internationale Menschenrechtsorganisationen kritisieren Demokratie-Defizite. Nie seit dem Ende der Militärdiktatur 1983 saßen in der Türkei so viele Journalisten hinter Gittern wie unter Erdogan. Hunderte Professoren, Anwälte und Offiziere müssen sich wegen angeblicher Putschpläne gegen die Regierung vor Gericht verantworten, viele sitzen seit Jahren in Untersuchungshaft.

Wor groß ist der Einfluss Güls?

Erdogans Gegner unterstellen ihm eine „geheime Agenda“, die schrittweise Islamisierung von Staat und Gesellschaft. In dieses Bild passen die Legalisierung des „Türban“, des islamischen Kopftuchs, und die neuen Alkoholverbote, aber auch frühere Bekenntnisse Erdogans, der in den 90er-Jahren erklärte, die Demokratie sei „wie eine Straßenbahn“: Man fahre eine Weile mit und steige aus, wenn man sein Ziel erreicht habe.

Während Erdogan zunehmend unter Druck kommt, blicken viele auf Staatspräsident Abdullah Gül. Der Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz am Samstagnachmittag gehe auf eine Intervention von Gül zurück, berichten türkische Medien am Sonntag. Der Präsident habe „Mäßigung“ gefordert, heißt es darin. Wenig später habe der Innenminister den Befehl zum Rückzug gegeben.