Istanbul. Die türkische Polizei hat bei ihrem harten Vorgehen gegen Demonstranten in Istanbul erneut Tränengas eingesetzt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan forderte die Demonstranten auf, die Proteste “sofort zu beenden“ und versicherte, das umstrittene Bauprojekt am Taksim-Platz werde durchgezogen.

"Milch, vergesst nicht die Milch für die Augen", rufen zwei junge Frauen, die von ihren Eltern am Samstag zu den Protesten an den Rand der Einkaufsstraße Istiklal gebracht werden. Tränengas wabert durch die Luft. "Regierung, Rücktritt!", skandieren Tausende Demonstranten, die sich Wasserwerfern und der schwer gerüsteten Bereitschaftspolizei entgegenstellen. "Wir haben genug von Erdogan und seinem islamischen Faschismus", schreit ein junger Mann durch seine Staubmaske, die das heftig in den Augen und Bronchien brennende Gas kaum abhalten kann.

Zehntausende sind in der Stadt seit dem Vortag auf den Straßen. Junge Leute mit Gasmasken, mit Zitronen gegen das Tränengas gewappnete alte Männer, schick gekleidete Frauen. Der islamisch-konservative Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat die liberale, bunte Türkei heftig gegen sich aufgebracht. Längst geht es nicht mehr um die Abholzung von Bäumen in einem Park am Rande des zentralen Taksim-Platzes. Die Demonstranten wenden sich gegen die Politik Erdogans, der seine Wurzeln im politischen Islam der Türkei hat.

Die Demonstranten werfen ihm vor, immer autoritärer aufzutreten und in ihren Lebensstil hineinzuregieren. Dutzende kritische Journalisten sitzen in Gefängnissen. Die von Erdogans Regierung ans Gängelband genommenen Medienkonzerne berichteten denn auch auffällig zurückhaltend über die Proteste. Wie die berühmten drei Affen, machten sich Protestierer lustig - nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.

Straßen rund um den Taksim-Platz sehen aus wie ein Schlachtfeld

Erst vor einigen Tagen hat die türkische Regierung die Regeln für den Ausschank und Verkauf von Alkohol weiter verschärft. "Schritte, die unternommen wurden, ohne die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen, schaden nur der demokratischen Herrschaft des Rechts im Staat", warnte der Präsident des türkischen Verfassungsgerichtes, Hasim Kilic. Es sei nötig, auch die Rechte derer zu schützen, mit deren Lebensstil man nichts anfangen könne.

Erdogan dagegen schlug seine größten politischen Schlachten, wenn es um die Rechte seiner eigenen Klientel ging. So hat er sich erbitterte Auseinandersetzungen geliefert, um Frauen mit Kopftuch Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst und Zugang zu Universitäten zu ermöglichen. Den Stewardessen der staatlich kontrollierten Turkish Airlines soll dagegen nun eine als züchtiger empfundene Uniform verordnet und greller Lippenstift verboten werden.

Wie ein Schlachtfeld sahen die Straßen rund um den Taksim-Platz am Samstag aus. Die Polizeigewalt löste international Besorgnis aus. Der türkische EU-Minister warnte die EU, Brüssel solle sich zurückhaltender äußern, sonst könne es unbeabsichtigte Konsequenzen geben.

"Niemand hat das Recht, das Fällen von Bäumen als Entschuldigung zu nehmen, um Spannungen im Land zu schüren", sagte Erdogan. Doch der Streit um den Gazi-Park ist nur Auslöser von Protesten, die sich gegen Erdogans Kurs richten. Er räumte am Samstag ein, dass die Polizei zu hart gegen die Demonstranten vorgegangen sei. Erdogan beharrte aber darauf, die Polizei werde den Einsatz auf dem Taksim-Platz fortsetzen. Stunden später mussten die Einheiten dort nach einem Aufruf des Präsidenten Abdullah Gül zur Mäßigung den Rückzug antreten.

Proteste gegen türkische Regierung auch in NRW 

Die Alevitische Gemeinde in Deutschland hat gegen das harte Vorgehen der türkischen Polizei gegen Demonstranten protestiert und den Rücktritt der islamisch-konservativen Regierung verlangt. "Gesellschaftliches Engagement ist evidenter Teil der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit und darf nicht mit Gewalt bekämpft werden", hieß es in einer Erklärung der alevitischen Dachorganisation AABF. Mehrere hundert Menschen folgten dem Aufruf der AAFB und kamen am Samstagnachmittag vor dem Kölner Dom zusammen. Lautstark bekundeten sie ihre Solidarität mit den Demonstranten in Istanbul und anderen türkischen Städten. Auf Plakaten forderten sie "Stopp Police Brutality" und protestierten "gegen den Staatsterror".

Viele Demonstrationsteilnehmer in Köln verlangten den Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Die türkische Regierung gehe repressiv gegen die Bevölkerung vor und versuche, die Stimme des Volkes zu "eliminieren", kritisierten die Aleviten - eine liberal-islamische Glaubensgemeinschaft. "Ein autoritäres Regime, das sich weder Recht noch Gesetz verpflichtet fühlt, steht im eklatanten Widerspruch zum demokratischen Wertesystem und darf im internationalen Diskurs nicht geduldet werden", meinte die AABF. Hierzulande leben rund 750 000 Aleviten.

Die Türkei setzt seit Tagen auch Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Zehntausenden Demonstranten abzudrängen. Eine Protestwelle gegen die Erdogan-Regierung hat inzwischen mehrere Städte erfasst. Das Vorgehen der Polizei nannten die Demonstranten in Köln "rechtswidrig und unverhältnismäßig".

Viele türkische Flaggen waren auch in Bielefeld zu sehen. Am Samstagvormittag demonstrierten zunächst rund 100 Menschen nach Polizei-Angaben in einer spontanen Versammlung gegen die Erdogan-Regierung. Am Nachmittag startete ein Demonstrationszug mit gut 200 Teilnehmern in Richtung Bahnhof. Dazu hatte ein türkischer Ortsverein aufgerufen, der laut Polizei ab Montag auch tägliche Mahnwachen angemeldet hat. In Duisburg folgten einige Dutzend Leute einem Facebook-Aufruf und zeigten sich ebenfalls solidarisch mit den Demonstranten, die die Politik der konservativen Regierungspartei als immer autoritärer empfinden. (dpa)