Ankara. .
Der türkische Premier Tayyip Erdogan will bei der Parlamentswahl am Sonntag die Weichen stellen für seinen Aufstieg ins höchste Staatsamt: Er möchte Staatspräsident werden. Seine Kritiker bezeichnen ihn bereits als „türkischen Putin“.
Eigentlich geht es bei der türkischen Parlamentswahl am Sonntag nur um eine weitere vierjährige Legislaturperiode für den amtierenden Premier Tayyip Erdogan. Es ist die letzte Wahl für Erdogan, der in allen Meinungsumfragen haushoch führt. Denn laut türkischer Verfassung ist nach drei aufeinander folgenden Amtsperioden Schluss für den bereits seit 2003 regierenden Ministerpräsidenten.
Dennoch blickt Erdogan weit nach vorn: „Das Ziel ist 2023“, heißt es auf den Wahlplakaten seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP). Sie zeigen einen Erdogan, der seinen Blick visionär in die Ferne zu richten scheint, weit über den Horizont hinaus. So schaut keiner aus, der sich auf die politische Pensionierung vorbereitet.
2023 - dann jährt sich zum 100. Mal jener 29. Oktober 1923, an dem der General Mustafa Kemal, der spätere Atatürk („Vater der Türken“), die Republik ausrief. Erdogan möchte den Jahrestag im Zenit seiner Macht zelebrieren. Er sieht die Wahl am Sonntag als Sprungbrett, das ihn ins höchste Staatsamt katapultieren soll. Läuft alles nach Plan, könnte er im Jubiläumsjahr 2023 gerade seine zweite Amtsperiode als türkischer Staatspräsident absolvieren – mit erheblich erweiterten Kompetenzen, die der Machtfülle eines französischen Staatschefs in nichts nachstehen sollen.
Ein wahres Wirtschaftswunder
Schon jetzt kann man sagen: Seit Atatürk hat kein Politiker die Türkei so stark geprägt wie Erdogan. Und es ist auch eine versteckte Anspielung auf den Türkenvater Atatürk, wenn seine Anhänger Erdogan nun bei den Wahlkampfkundgebungen als „Papa Tayyip“ verehren.
Seit er regiert, hat die Türkei ein wahres Wirtschaftswunder erlebt: das Pro-Kopf-Einkommen hat sich fast verdreifacht. In der EU wäre das Land, gehörte es dazu, wirtschaftlich die Nummer sechs. Auch außenpolitisch ist unter Erdogan der Einfluss der Türkei in der Region enorm gewachsen. Im „arabischen Frühling“ gilt sie vielen benachbarten Völkern als Modell einer geglückten Synthese von Islam, parlamentarischer Demokratie und wirtschaftlicher Prosperität.
Dabei hat die Türkei keineswegs alle ihre inneren Konflikte gelöst. Erdogans Versuch, das Kurdenproblem beizulegen, scheiterte. Er versprach der Minderheit zwar mehr politische und kulturelle Rechte. In der Praxis blieb es aber bei kleinen Zugeständnissen wie kurdischen TV-Programmen des Staatsfernsehens. Erdogans Hoffnung, die militante PKK werde die Waffen strecken, hat sich nicht erfüllt. Der Konflikt eskaliert in jüngster Zeit sogar. Trotz Wirtschaftswunder bleibt auch das enorme Wohlstandsgefälle zwischen dem reichen Westen und dem armen Osten des Landes ein brennendes Problem.
Mehrheit in den Meinungsumfragen
Die vielleicht wichtigste Veränderung der Ära Erdogan: Er hat seine einst einflussreichsten Gegner, die türkischen Militärs, weitgehend entmachtet. Dutzende aktive und ehemalige Offiziere sitzen in Untersuchungshaft, weil sie Putschpläne gegen die Regierung geschmiedet haben sollen. Erdogans Anhänger sehen darin einen Schritt zur Demokratisierung; seine Kritiker fürchten, dass mit der Entmachtung der Generäle ein wichtiges Korrektiv wegfällt. Die meisten Türken sehen in der Armee immer noch jene Institution, der sie das größte Vertrauen entgegenbringen.
Dennoch kann sich Erdogan auf eine breite Mehrheit stützen. Das zeigen auch die Meinungsumfragen: seine AKP liegt mit Stimmenanteilen von rund 48 Prozent weit vor der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), der die Meinungsforscher etwa 30 Prozent prognostizieren. Trotz des komfortablen Vorsprungs führt Erdogan seinen Wahlkampf so, als gehe es um jede Stimme. Unermüdlich, wenn auch deutlich von den Strapazen der vergangenen Wochen gezeichnet, absolviert der 57-Jährige an manchen Tagen mehrere große Kundgebungen, klettert immer wieder auf das zur Rednertribüne ausgebaute Dach seines Wahlkampfbusses.
Für seine Gegner ein Alptraum
Und von dort oben verweist er nicht allein auf seine in der Tat beeindruckende wirtschaftliche Erfolgsbilanz. Erdogan spricht auch von der Zukunft. Und immer wieder vom Jahr 2023. Bis dahin soll sich die Wirtschaftsleistung von 750 auf 2000 Milliarden Dollar mehr als verdoppeln – getrieben von gigantischen Zukunftsprojekten wie dem Bau gleich zweier Trabantenstädte bei Istanbul für Millionen Menschen und einem künstlichen Bosporus, einem 45 Kilometer langen Kanal vom Schwarzen Meer zum Marmarameer.
Grandiose Projekte - denn Erdogan will diese Wahl nicht nur gewinnen, er will möglichst groß gewinnen. Neben dem Datum 2023 geistert eine zweite magische Zahl durch diesen Wahlkampf: 330. So viele Sitze will Erdogan im 550 Mandate zählenden nächsten Parlament mindestens erobern. Denn gestützt auf diese Dreifünftelmehrheit könnte er dem Land eine neue Präsidialverfassung verpassen, die dem Staatsoberhaupt große Machtfülle gibt – ein neues Grundgesetz, zugeschnitten auf Erdogan als nächsten Präsidenten.
Für Erdogans Gegner ist diese Vorstellung ein Alptraum. Sie sehen in dem Premier, der das Land zunehmend selbstherrlich regiert, bereits jetzt einen „türkischen Putin“. Meinungs- und Pressefreiheit würden in der Türkei „mit Füßen getreten“, Erdogan sei dabei, die Justiz gleichzuschalten, sagt die Juristin Emine Ülker Tarhan, die aus Protest ihr Amt als Oberste Richterin in Ankara abgab und nun für die oppositionelle CHP kandidiert. Tarhan: „Der Polizeistaat steht nicht nur vor unserer Tür, er hämmert mit dem Rammbock dagegen.“
Sexvideos im Internet
Ob Erdogan die angestrebte Dreifünftelmehrheit erreichen kann, wird nicht zuletzt von Leuten wie Bülent Didinmez abhängen. Er war Vizechef der rechtsnationalistischen Partei MHP – bis im Internet ein Video erschien, das ihn beim Sex mit einer Geliebten zeigt. Didinmez musste zurücktreten. Weitere neun ranghohe MHP-Funktionäre haben inzwischen ihre Ämter niedergelegt, seit sie auf YouTube beim außerehelichen Sex zu sehen waren.
Wegen der Skandale liegt die MHP inzwischen gefährlich nahe an der Zehnprozenthürde, die in der Türkei über den Einzug ins Parlament entscheidet. Wer die mit versteckter Kamera aufgenommenen Videos in Umlauf brachte, wird man vermutlich nie erfahren. Klar ist nur: Scheitert die MHP an der Zehnprozenthürde, würde vor allem die AKP als stärkste Partei davon profitieren. Dann geriete vielleicht sogar eine Zweidrittelmehrheit in greifbare Nähe. Für Erdogan würde das bedeuten: er könnte nahezu unumschränkt regieren.