Washington. . Die US-Geheimdienste sind sich uneins in der Frage, ob Nordkorea tatsächlich in der Lage ist, einen Atomangriff zu starten. Die Lage ist deshalb brisant, weil Washington langsam die Geduld mit Kim Jong Un zu verlieren scheint und mehr oder minder offen mit Gegenschlägen droht.

Schon Atommacht – oder kurz davor? In der Lage, Raketen mit nuklearen Sprengköpfen abzufeuern – oder noch nicht ganz? Mitten in der angespannten Atmosphäre um den Krisenherd Nordkorea scheiden sich in Washington plötzlich die Geister an der Frage: Wie gefährlich ist das kommunistische Regime tatsächlich?

Was ist passiert?

Der Geheimdienst des Verteidigungsministeriums, die „Defense Intelligence Agency“ (DIA), gehört zu den Stützpfeilern der Auslandsspionage. Die am Donnerstag durch einen republikanischen Abgeordneten im Kongress veröffentlichte Passage aus einem DIA-Bericht ist die bislang klarste Aussage über das Gefährdungspotenzial des Regimes. Zum ersten Mal räumen die USA darin ein, dass Pjöngjang kleine Nuklear-Sprengköpfe besitzt und auf Träger-Raketen mit erheblicher Reichweite installieren kann.

Was folgt aus der Analyse?

Das ist offen. Südkorea hat die Expertise gestern als überzogen verworfen, der unleidliche Nachbar sei noch nicht so weit. Der US-Militär-Geheimdienst selbst hat seine Feststellung abgeschwächt. Man habe nur „bescheidenes Zutrauen“ in die eigene Analyse. Zudem sei die Einsatzfähigkeit einer nordkoreanischen Atomrakete wahrscheinlich „unzuverlässig“. Prompt nutzten andere Protagonisten der Geheimdienst-Szene die Nachricht für weitere Beschwichtigungen.

Als da wären?

Geheimdienst-Koordinator James R. Clapper betonte, dass nicht alle 16 US-Dienste die Einschätzung der DIA teilen, die 2003 fälschlicherweise dem irakischen Despoten Saddam Hussein den Besitz von Massenvernichtungswaffen unterstellt hatte. Außerdem habe Nordkorea bis heute nicht „in vollem Ausmaße demonstriert, dass es Kapazitäten für eine mit Atomsprengköpfen versehene Rakete besitzt“. Ähnlich gedrechselt äußerte sich das Pentagon, Dienstherr der DIA.

Woher rührt der Widerspruch?

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Erkenntnismangel. Die USA wissen über Nordkoreas Staatschef Kim Jong Un selbst und den Reifegrad des Atomprogramms wenig. Seit der Machtübernahme des 30-Jährigen Ende 2011 gab es kein einziges offizielles Gespräch mit US-Regierungsmitgliedern, geschweige denn Präsident Obama. Nordkorea soll nicht aufgewertet werden, lautet die Standard-Begründung in Washington. Wie Kim Jong Un wirklich tickt, ob er einen festen Plan für seine atomaren Drohgebärden besitzt, so Geheimdienst-Chef Clapper, wisse man nicht. Ähnlich verhält es sich mit der Beurteilung der atomaren Kapazitäten Pjöngjangs.

Warum ist die uneinheitliche Bewertung gerade jetzt beunruhigend?

Sie kommt zu einer Zeit, in der Washington die Strategie des Beschwichtigens aufgibt; zumindest rhetorisch. Verteidigungsminister Chuck Hagel spricht davon, dass Nordkorea sich „sehr nahe an einer gefährlichen Linie“ bewege. Außenminister John Kerry warnte das Regime gestern vor einem weiteren Raketen-Test, das wäre ein „riesiger Fehler“, sagte er. Amerika werde niemals eine Atommacht Nordkorea dulden.

Zum ersten Mal meldete sich auch US-Präsident Obama zu Wort und drohte Pjöngjang verklausuliert mit Vergeltung – falls es die Angriffsdrohungen wahr machen sollte. Die Sorge vor einer Eskalation ist so groß, dass UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon sich in koreanischer Sprache auf dem Sender CNN direkt an Pjöngjang wandte und um Einlenken bat.

Wann wird man klarer sehen?

Voraussichtlich rund um den kommenden Montag. Zum Geburtstag des Staatsgründers Kim Il Sung am 15. April (der 101.) hat Pjöngjang in der Vergangenheit regelmäßig die Muskeln spielen lassen. Spekuliert wird seit Tagen über den Start einer neuen Test-Rakete. Wie die USA darauf reagieren würden? Offen.