Brüssel. Der EU-Abgeordnete Martin Callanan aus Großbritannien schimpft - wie einige seiner Kollegen - gern und viel auf die EU, im EU-Parlament fällt er regelmäßig mit Tiraden gegen Europa auf. Dabei erfährt man einiges darüber, warum viele Briten mit Europa nicht wirklich warm werden.

Als Brite lässt es sich gut leben in Brüssel. Im EU-Viertel und anderswo in der EU-Hauptstadt gibt es britische Kneipen, Läden und Essen. Französisch braucht man hier nicht unbedingt. Zudem regnet es in Belgien des öfteren. Trotz alledem: Martin Callanan fühlt sich nicht wirklich heimisch in der EU-Hauptstadt. Wer ihm zuhört, erfährt viel über das europäische Fremdeln der Briten.

Callanan hatte viel Zeit, um sich in Brüssel einzuleben. Er lebt hier freiwillig, bereits seit fast 13 Jahren – zeitweise zumindest. Seit 2009 sitzt Callanan im EU-Parlament. Wie jeder Bürgervertreter reist der Konservative regelmäßig in seine Heimat. Callanan stammt aus dem nordenglischen Newcastle, dort ist sein Wahlkreis.

In EU-Sachen kennt sich Callanan, der sich „Euro-Realist“ nennt, berufsbedingt gut aus. In Brüssel arbeitet er an Gesetzen, die das Leben der Europäer lenken.

Wie Statler und Waldorf aus der "Muppet Show"

Im 754-köpfigen EU-Parlament fällt er regelmäßig auf mit Tiraden gegen „Europa“. Allein ist Callanan dabei nicht. Der 52-Jährige sitzt oft neben seinem fast gleichaltrigen Landsmann Nigel Farrage. Die zwei erinnern an eine verjüngte Version der beiden Opas in der „Muppet Show“, Statler und Waldorf, die von ihrem Balkon alles unzufrieden-sarkastisch kommentieren.

Der stramme Antieuropäer Farrage, Chef der britischen Partei „Ukip“, lässt im EU-Parlament keine Gelegenheit aus, seiner Abneigung gegen die Europäische Union freien Lauf zu lassen. Bei einem seiner wüsten Ausfälle bescheinigte Farrage dem EU-Ratschef Herman van Rompuy das „Charisma eines feuchten Lappens und die Erscheinung eines Bankangestellten“.

Callanan ist im Kreis der EU-Abgeordneten weniger unflätig als Farrage. Und im persönlichen Gespräch ist er durchaus gewinnend. Müsste man ihn in einem Comic verewigen, wäre er ein verschmitzter Lausbub. Doch Callanan irritiert, bewusst.

Dunkler Anzug - und pink-dunkel-karierte Socken

Blickt man an ihm herab, sieht man einen gut sitzenden dunklen Anzug, kombiniert mit einem zartrosa Hemd. Doch dann: der Bruch. Pink-dunkel-karierte Socken! Je nach Sichtweise ist das eine willkommene Abwechslung im männlichen Parlaments-Grau – oder ein Zeichen: „Ich bin anders“.

Zu Beginn des Gesprächs sagt Callanan stolz „Currywutz“. Und:„Ich lerne gerade Deutsch.“ Die „Currywutz“ munde ihm, sagt Callanan, „vor allem die vom Kölner Hauptbahnhof“. In Deutschland urlaube er gern. Überhaupt: „Deutsche und Briten sind sich ziemlich ähnlich.“ Callanan begründet das so: „Wir haben einen ähnlichen Blick auf Europa.“

Da mag er nicht ganz unrecht haben. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bemüht sich seit einigen Monaten verstärkt um die euroskeptischen Briten und deren Premierminister David Cameron. Das tat dem gut.

Ein Brite als europaweiter Buhmann

Schließlich geriet Cameron im Januar europaweit zum Buhmann, da er den Briten in einer viel beachteten Rede unter anderem eine Volksabstimmung über ihre EU-Zugehörigkeit in Aussicht gestellt hatte. Cameron löste eine Debatte über das krisengeplagte Europa aus. „Ich hoffe, das verändert Europa“, sagt Callanan.

In Brüssel fielen die Reaktionen gemischt aus. EU-Regionalkommissar Johannes Hahn wertet Camerons Europa-Rede zumindest als „Weckruf an die politisch Verantwortlichen in der EU, das Projekt Europa in keinster Weise zu gefährden.“

Andere EU-Granden sind sauer. EU-Parlamentschef Martin Schulz, ein deutscher Sozialdemokrat, wettert: „Premierminister Cameron ähnelt immer mehr dem Zauberlehrling, der die Kräfte nicht im Zaum halten kann, die er gerufen hat – Kräfte, die aus der EU drängen wegen ideologischer Gründe, zum Schaden der britischen Bürger.“

Merkel stellt sich hinter Cameron

Merkel dagegen stellt sich verstärkt hinter Cameron. Zum Beispiel, als er bei den jüngsten harten EU-Budget-Verhandlungen zum Unwillen vieler Staaten Einsparungen forderte. Die machtbewusste Kanzlerin sprang Cameron aber nicht aus Selbstlosigkeit bei. Merkel, wegen ihrer Sparkurses in der Euro-Krise teils heftig kritisiert, konnte Cameron vorpreschen lassen und stand einmal nicht als Spar-Kanzlerin da.

Der EU-Abgeordnete Callanan sieht neben dem Spar-Fokus weitere Gemeinsamkeiten der zwei Länder. Der größte EU-Staat Deutschland und Großbritannien mit seinen weltweiten Handelsbeziehungen hätten ein Interesse an einem starken geeinten Wirtschaftsplatz Europa, Stichwort „gemeinsamer Binnenmarkt.“

Er findet aber auch Unterschiede zwischen Deutschen und Briten, „aus historischen und geografischen Gründen“. Die geografischen sind schnell erläutert: Großbritannien ist ein Inselstaat, Deutschland nicht.

"Guter" Norden und "schlechter" Süden

Um diese historischen Gründe zu erklären, holt Callanan etwas aus. Er blickt zurück zum Zweiten Weltkrieg, der Europa von 1939 bis 1945 erschütterte.

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„Deutschland hängt mehr an der Idee 'Europa'“, sagt Callanan. „Deutschland mangelt an historischem Selbstvertrauen, ein friedlicher Staat zu bleiben.“ Deutschland sehe sich als Teil der EU, weil es so keinen Schaden mehr anrichten könne. Die Briten dagegen seien „stolz“ auf ihr Land.

Doch gleich betont Callanan wieder vermeintliche Gemeinsamkeiten. „Wir Nordeuropäer respektieren Institutionen - anders als die Südeuropäer““, sagt er. Da ist sie, die grobe Aufteilung Europas in den „guten“ Norden und den „schlechten“ Süden, die in diesen Krisenzeiten Europa vor eine Zerreißprobe stellt.

Langsam redet sich Callahan in Fahrt

Doch Callanan ist zu schlau, um lang bei derartigen Klischees zu verweilen. Schnell kommt er wieder auf unverfänglichere Themen zu sprechen, zumindest vorerst. Langsam aber redet er sich in Fahrt. Bei Callanan heißt das: Es brechen Sätze aus ihm heraus, die nicht in das Bild des gewinnenden Politikers passen wollen, das der EU-Parlamentarier von sich zu zeichnen versucht.

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„Wir sehen nicht ein, dass Europas Staaten alle das Selbe machen müssen“, sagt Callanan. „Europa wurde schließlich reich, weil wir dank unserer Unterschiede wettbewerbsfähig waren.“

Mindestens genauso wichtig ist dem Briten dies: „Wir sind dagegen, dass uns gesagt wird, was wir tun sollen.“ Die EU sei ein „politisches Konstrukt“, „unakzeptabel, undemokratisch und diktatorisch“.

EU sollte "schrumpfen und umgebaut werden"

Dabei verschweigt Callanan, dass in der EU die Staaten das letzte Wort haben. Und dass es in einigen Bereichen reicht, wenn ein Staat sein Veto einlegt – siehe Großbritanniens „Nein“ zu einem größeren EU-Haushalt. Doch die Brüssel-Schelte ist nicht nur, aber vor allem in Großbritannien beliebt.

„Die EU ist antidemokratisch aufgebaut“, schimpft Callanan, nun in Fahrt. „Sie sollte schrumpfen und umgebaut werden.“ Sein – typisch britisches – Ideal: „Ich würde die EU zu einer Freihandelszone machen.“

Damit bleibt bei Callanan von der Vision einer politischen und wirtschaftlichen Union nichts mehr übrig. Den Euro-Währungsraum, dem 17 der 27 EU-Staaten angehören, hält Callanan übrigens für den „größten Fehler“: „Zu viele Staaten wurde ermöglicht, den Euro einzuführen – siehe Griechenland.“ Großbritannien ist neben Dänemark der einzige EU-Staat, der den Euro nie als Währung möchte.

Ein paar versöhnliche Worte

Der EU-Abgeordnete Callanan hat nun lang und breit die EU gegeißelt. Zeit für ein versöhnende Worte, immerhin führt er dank der EU ein materiell komfortables Leben in zwei Staaten.

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Seine Arbeit als Bürgervertreter in Brüssel genieße er, sagt Callanan. „Wir können voneinander lernen, beispielsweise von Deutschland und Skandinavien bei der Ausbildung. Auch unserem Eisenbahn-System täte ein bisschen germanischer Input gut.“

Dann, kurz bevor er wieder in die Weiten des Labyrinth-artigen EU-Parlaments entschwindet, sagt der Brite: „Ich hoffe, dass Europa größer wird.“ Er zählt mögliche neue EU-Staaten auf: „Ukraine, Balkan-Staaten, eventuell die Türkei.“ Trotz Callanans umfassender EU-Kritik: Ein echter Anti-Europäer würde so etwas wohl nicht sagen.