Berlin. . Für Joachim Gauck war 2013 ein aufregendes Jahr: Nach dem erzwungenen Rücktritt von Christian Wulff wurde er plötzlich Bundespräsident, gegen den Willen von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sein neues Amt musste er erst erlernen musste. Im Volk sorgt Gauck immer wieder für Stirnrunzeln.

Ob das nicht schon wieder manchem als ungehörig erscheinen könnte, dieser Dank ans Militär ganz zu Beginn ausgerechnet einer Weihnachtsansprache: „Es hat mich beeindruckt,“ heißt es da schon im dritten Absatz, „wie deutsche Soldatinnen und Soldaten unter Einsatz ihres Lebens Terror verhindern und die Zivilbevölkerung schützen.“

Der Dank an ehrenamtlich engagierte Zivilisten nicht in Afghanistan, sondern im eigenen Land kommt erst sehr viel später gegen Ende der Rede. Schickt sich das? Ist das noch der gute bundesdeutsche Nachkriegston?

Stirnrunzeln hier und da hat Joachim Gauck ja schon im Juni erzeugt, als der neu gewählte Präsident der Bundeswehr seine Aufwartung machte und die Soldaten als „Mutbürger“ würdigte. Es hat ihm den Vorwurf eingetragen, einer Militarisierung des Denkens Vorschub zu leisten. Nicht, dass er davon beeindruckt gewesen wäre.

„Hoppla, das bin ja ich“

Gegenüber der in langen Nachkriegsjahrzehnten gewachsenen deutschen Militärphobie beharrt Gauck auf der intellektuellen Anstrengung einer sauberen Differenzierung. Zwischen einer Armee in der Demokratie und einer Armee in der Diktatur, wie sie der einstige DDR-Bürger aus eigener Anschauung kennt. Zwischen einem Einsatz, der wie der in Afghanistan zumindest mit dem Anspruch einhergeht, eine Zivilbevölkerung gegen Terrroristen zu verteidigen, und einem Eroberungsfeldzug.

Nein, das Unterscheidungsvermögen, also die Geistesgaben, seines Publikums zu unterfordern, wäre das Letzte, was diesem Präsidenten einfiele. Für ihn geht in diesen Tagen ein Jahr zu Ende, das ihm die - nach der friedlichen Revolution der Ostdeutschen - vielleicht zweitgrößte Überraschung seines Lebens beschert hat.

Bundespräsident zu werden, das hatte Gauck eigentlich abgehakt, nachdem er in der Bundesversammlung 2010 dem politischen Willen Angela Merkels unterlegen war. Und auch ein Dreivierteljahr nach seiner Wahl hat er, wie er gesteht, das Gefühl, er müsse sich manchmal „kneifen“, wenn er morgens ins Schloss Bellevue fahre: „Dann denke ich mir: Hoppla, das bin ja ich!“

Dass ein „Demokratielehrer“, wie Gauck bis dahin seine Rolle gesehen hatte, gegenüber einem Präsidenten das Privileg der Unbefangenheit genießt, hat er in den ersten Wochen seiner Amtszeit erfahren müssen. Beim Antrittsbesuch in Brüssel hat er damals die Erwartung geäußert, das Verfassungsgericht werde den Euro-Rettungsfonds ESM durchwinken. In Jerusalem hinter die These der Kanzlerin, Israels Sicherheit sei für Deutschland „Staatsräson“, große Fragezeichen gesetzt.

Zurückhaltung gelernt

Beides ist ihm zu Hause verübelt worden. Er hat schnell gelernt. „Der deutsche Präsident regiert nicht und darf auch nicht Entscheidungen des Bundestages vorgreifen, deshalb kann ich nur Wünsche und Vermutungen äußern“, so oder ähnlich pflegt er sich mittlerweile einzulassen, wenn etwa im Ausland die Rede auf allzu aktuell Politisches kommt.

Womöglich hat die Bundesrepublik noch nie einen Präsidenten erlebt, der sich so sehr wie dieser über Jahrzehnte seines Erwachsenenlebens hinweg aus dem Widerspruch zu einem diktatorischen Regime definiert hat. Die Erfahrung des einstigen DDR-Bürgers prägt seine Amtsführung mehr als alles andere.

Dass „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“ für ihn keine abstrakten Kategorien sind, unterscheidet ihn von der Mehrzahl der deutschen Zeitgenossen. „Erwachsen“ zu sein und sich so zu verhalten ist sein kategorischer Imperativ an Bürger wie Nationen - noch immer die Absage an den „bevormundenden“ Staat .

Und im Nachdenken über die Bedingungen des Umgangs einer Gesellschaft mit einer schuldbeladenen Vergangenheit fühlt sich Gauck den osteuropäischen Nachbarn verbunden. Dass die deutsche Nachkriegserfahrung mit dieser Schulddebatte „so etwas wie ein humanes und kulturelles Angebot an andere Nationen“ sein könnte, ist seine Überzeugung.

Teil des politischen Systems

Mit der Prägung des einstigen DDR-Bürgers, dem Demokratie noch immer keine Selbstverständlichkeit ist, hat es wohl auch zu tun, dass sich Gauck sehr im Unterschied zu manchen seiner Vorgänger nicht in erster Linie als Kritiker, eher als Interpret demokratischer Politik begreift.

„Erlösungserwartungen“ an die Politik stimmen den Protestanten skeptisch. Dass ihre Kehrseite rabiater Politikverdruss sein kann, weiß er. Er würde die Deutschen davon gerne kurieren, sie, wie er es selbst nennt, mit dem Staat „neu anfreunden“

Dass manche den Bundespräsidenten als Anti-Politiker wahrnehmen möchten, davon hält er folglich überhaupt nichts. Sehr bewusst nimmt für sich in Anspruch, Teil des politischen Systems zu sein. Und sieht sich mithin auch in der Pflicht, etwa den Euro-Kurs der Kanzlerin gegen den Vorwurf deutscher Selbstüberhebung bei den Nachbarn zu verteidigen. „Man kann die deutsche Position hinterfragen, sie tut aber Europa nichts Böses“, sagt er. Arrogant seien die Deutschen nicht. Zum Selbstbewusstsein haben sie nach Ansicht ihres Präsidenten allen Grund.

Sie blicken schließlich nicht allein auf eine finstere Vergangenheit im Dritten Reich zurück, sondern mittlerweile auch auf die Errungenschaften ihrer Nachkriegsdemokratie. Darauf haben andere schon hingewiesen. Roman Herzog hat sich ein „unverkrampftes“ Deutschland gewünscht und ist dafür schwerstens gerüffelt worden. Horst Köhler die Deutschen als „zur Freiheit begabt“ gewürdigt, ohne Resonanz. Ist Gauck derjenige dem die Leute zuhören?