Berlin. . Er ist beliebt, eigensinnig, und manchmal ärgert er die Kanzlerin: Bundespräsident Joachim Gauck hat Lust auf sein Amt. Die Neigung anzuecken, ist zu seinem Markenzeichen geworden. Am Montag ist er 100 Tage Herr im Schloss Bellevue.
Daniela Schadt, seine Partnerin, meinte neulich, die Szene mit Norbert Röttgen sei etwas überinterpretiert worden. Joachim Gauck wollte nicht das personifizierte Kontrastprogramm zur Kanzlerin sein. Es kam wohl der Pastor in ihm durch. Es drängte den Bundespräsidenten, ein paar Worte des Trosts für den rüde von Angela Merkel abservierten Minister zu finden. So ist es beim ersten Mann im Staat: Er steht stets im Generalverdacht, ein politischer Präsident, ein Nebenkanzler, ein Einmischer, ein Mitmischer zu sein. Bald sind 100 Tage seit Gaucks Wahl vergangen, und drei Eindrücke drängen sich auf: Er ist im Amt angekommen. Er ist beliebt beim Volk. Und drittens? Wie hieß noch einmal sein Vorgänger?
Gauck hat losgelegt, als wollte er die 100 Tage Schonzeit voll ausreizen. Er hat Christian Wulffs - ach ja! - Wort vom Islam, das zu Deutschland gehöre, relativiert; in Holland der Befreiung von den Nazis gedacht; von Israel aus eine Debatte über deutsche Staatsräson (Merkel) in einem Nahost-Konflikt losgetreten. Den Soldaten der Bundeswehr hat sein Wort von den „Mutbürgern in Uniform“ gut, und in Brüssel trauten sie ihren Ohren nicht, als er beim Besuch zu Protokoll gab, das Bundesverfassungsgericht werde den ESM-Vertrag gewiss nicht konterkarieren. Zwischendurch sagte Gauck ein Präsidententreffen in der Ukraine ab; auch das ein Signal.
Anecken als Markenzeichen
In den ersten 100 Tagen hat der Präsident seinem Vorgänger, der Kanzlerin und den Richtern auf die Zehen getreten. Er kann mitfühlend sein, ja. Aber er kann auch anders sein. Am hundersten Tag im Amt waren eigentlich Ruhe und Routine angesagt: Im Schloss Bellevue wird am Montag eine Büste von Vor-Vorgänger Horst Köhler enthüllt und Gauck hält eine Ansprache. Vom Staatsoberhaupt würde man da Selbstbesinnung erwartet. Doch plötzlich hat der Auftritt eine hochbrisante Bedeutung. Denn die Sache mit Karlsruhe holte ihn ein und wird unverhofft zur Bewährungsprobe: Er wird das Euro-Rettungsschirm-Gesetz nach dem Beschluss von Bundestag und Bundesrat nicht unterschreiben. Darum baten ihn die Richter. Sie haben (noch?) nicht ESM, wohl aber die Bundesregierung konterkariert - und auch Gauck.
Die Kanzlerin soll ihn gar gedrängt haben, das Gesetz sofort nach dem Parlamentsbeschluss zu unterzeichnen. Die Regierung bestreitet das. Doch weiß man, dass schon Köhler an Merkels Erwartung verzweifelte, Hilfspakete im Eiltempo abzusegnen - und am Ende ging Köhler.
Man kann einsam werden in diesem Amt, aber einer wie Gauck leidet nicht darunter, sondern zieht daraus seine Lust: Die Neigung, anzuecken, ist zum Markenzeichen des Präsidenten geworden. Selbstzweifel hat der rhetorisch gewandte Gauck nicht. Den Deutschen gefällt das: 78 Prozent der Bürger bewerten seine Amtsführung positiv - doppelt so viele wie nach 100 Tagen Amtszeit Wulff. Ausdrücklich lobt eine breite Mehrheit, dass Gauck mitunter auch starke Gefühle zeigt.
„Mit dem werden wir noch Spaß haben“
Diese Seite des früheren Pfarrers ist neu in Schloss Bellevue: Emotional ist der Präsident - manchem auch schon zu rührselig - , warmherzig und rhetorisch kraftvoll; zusammen mit seiner Lebensgefährtin Schadt hat Gauck einen neuen, sympathischen wie glaubwürdigen Stil ins Amt eingebracht. Wenig Sprechblasen, viel Nähe. Eine kleine Szene nur, diese Woche im Schloss Bellevue: Empfang zum Demokratiefest, 450 junge Leute sind gekommen. „Wissen Sie was? Der besondere Schmuck hinter all den Blumen hier - das sind Sie“, sagt Gauck. Die Gäste sind begeistert.
Rasch hat der 72-Jährige die Kanzlerin widerlegt. Die wollte ursprünglich den Kandidaten mit der Begründung verhindern, sein Herzens-Thema Freiheit sei allein zu wenig für das Amt. Gauck hat bereits bewiesen, dass er thematisch viel breiter aufgestellt ist, sich dabei aber nicht in Schablonen pressen lässt. Diese Freiheit nimmt sich Gauck. Mit Kalkül ging er zum Beispiel beim Staatsbesuch in Israel auf Distanz zu Merkels Credo, das Existenzrecht Israels gehöre zur deutschen Staatsräson. Das könne die Kanzlerin „in enorme Schwierigkeiten“ bringen angesichts des Konflikts mit dem Iran. Merkel war nicht amüsiert, auch in der Koalition wurde Kritik laut. Später ruderte Gauck zurück, offenbar nach einem Anruf der Kanzlerin.
Störungsfrei ist das Verhältnis nicht. Doch beide sind professionell genug, trotz Differenzen zusammenzuarbeiten. “Mit dem werden wir noch Spaß haben“, heißt es in Regierungskreisen. Gauck selbst hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er noch lernen musste im Amt. „Warum“, hat er vor ein paar Wochen gefragt, „sollen mir keine Anfängerfehler unterlaufen?“