Dortmund. . Im Internet wird Gauck zum Buhmann. Er habe die provokanten Thesen Sarrazins gelobt – und wird dafür sogar als Rassist beschimpft. Er sei ein Gegner der Occupy-Bewegung und ein Freund der Vorratsdatenspeicherung. Aber was ist wirklich dran an diesen Gerüchten?

Wie kommt es eigentlich, dass plötzlich so viele Leute behaupten, Joachim Gauck sei doch nicht der geeignete Bundespräsidentenkandidat? Im Internet ist die Rede davon, Gauck habe seinerzeit die provokanten Thesen Sarrazins gelobt – darum wird er sogar als Rassist beschimpft. Andere behaupten, er sei ein Anti-Demokrat, ein Gegner der Occupy-Bewegung und ein großer Freund der Vorratsdatenspeicherung. Was ist dran, an diesen Gerüchten?

Um die Antwort der Erklärung voranzustellen: Nichts!

Im Internet haben sich dank Twitter, Facebook und sonstiger Ich-mach-mich-wichtig-Portale mal wieder schlecht recherchierte Nachrichten verselbstständigt. Offenbar – und das ist ein ganz grundsätzliches Problem des Netzes – werden gewisse Informationen von den Nutzern dort ungeprüft und ohne auch nur kurz darüber nachgedacht zu haben, als Wahrheiten angesehen und weitergetragen. Vergleichbar ist dieser Vorgang mit einem grassierenden Durchfallvirus.

Äußerst bedenklich wird es, wenn auch Politiker und Journalisten auf diesen Zug aufspringen. Im Falle Gauck haben beide Berufsgruppen das in vielen Fällen getan.

So auch im Fall des vermeintlichen Lobes des Präsidentschaftskandidaten Gauck in Richtung Thilo Sarrazin. Der Ursprung der Geschichte liegt in einem Gauck-Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“. Dort hatte Gauck gesagt: Sarrazin „hat über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik“.

Und weiter: Die Politiker könnten daraus lernen, dass „ihre Sprache der politischen Korrektheit bei den Menschen das Gefühl weckt, dass die wirklichen Probleme verschleiert werden sollen.“ Das klingt eher nach gängiger Meinung als nach einem Schulterschluss mit Sarrazin.

Zudem äußerte Joachim Gauck zur gleichen Zeit ge­genüber „süddeutsche.de“, gefragt nach dem deutschen Integrationsproblem: „Es besteht nicht darin, dass es Ausländer oder Muslime gibt – sondern es betrifft die Abgehängten dieser Gesellschaft. Darum erscheint es notwendig, und das ist meine Kritik an Sarrazin, genauer zu differenzieren und nicht mit einem einzigen biologischen Schlüssel alles erklären zu wollen.“

Gauck sagt zudem über Sarrazin:

„Er ist mutig und er ist natürlich auch einer, der mit der Öffentlichkeit sein Spiel macht, aber das gehört dazu. Er setzt sich mit dem Missbehagen von Intellektuellen und von Genossen seiner Partei auseinander – darunter werden viele sein, deren Missbilligung er eigentlich nicht möchte. Nicht mutig ist er, wenn er genau wusste, einen Punkt zu benennen, bei dem er sehr viel Zustimmung bekommen wird.“

Das klingt ebenfalls nicht gerade nach einer Lobeshymne auf Sarrazin. Im Internet wurden Versatzstücke aus Interviews neu zusammengepuzzelt und ins Gegenteil verdreht. Gauck kritisiert deutlich die kruden Thesen Thilo Sarrazins und dessen pseudo-wissenschaftliche Aussagen.

Doch der zukünftige Präsident soll ja auch ein Anti-Demokrat sein, der gegen die Occupy-Bewegung ist und die Hartz-IV-Demonstrationen am liebsten verbieten lassen möchte. Hintergrund: Der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten hatte in einem Gespräch über die Occupy-Bewegung geäußert: „Das wird schnell verebben. Ich habe in einem Land gelebt, in dem Banken besetzt waren.“ Im Netz ist häufig zu lesen, Gauck habe die Demonstrationen als „albern“ bezeichnet. Auch das ist aus dem Zusammenhang gelöst worden. Als „albern“ hatte Gauck lediglich die Antikapitalismusdebatte bezeichnet, also die Forderung, sich von den Märkten zu befreien. An den Hartz-IV-Demonstrationen hatte Gauck kritisiert, dass sie sich „Montagsdemonstrationen“ nennen. Den Namen bezeichnete er in der „Süddeutschen Zeitung“ als „töricht und geschichtsvergessen“. Im Internet wird daraus: „Joachim Gauck findet Hartz-IV-Demos töricht“.

Ein weiterer im Netz viel diskutierter Vorwurf ist, Gauck befürworte die Datenspeicherung vorbehaltlos. Grund der Diskussion ist eine Äußerung Gaucks zu einer Debatte in Österreich. Gauck sagte, er halte das Speichern von Telekommunikationsdaten nicht generell für den Anfang eines Spitzelstaates. Weiter sagte er: „Wenn der Staat die Rechte beschneidet, dann muss es verhältnismäßig sein. Ich will tragfähige Belege, was das Ganze bringt.“ Auch in diesem Fall zeigt sich, wie das Internet durch seine Schnelligkeit und der Möglichkeit für jeden, alles zu äußern, immer mehr die Fähigkeit des Einzelnen fordert, dort verbreitete Informationen kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Mehr Gelassenheit

Für dieses Internet-Phänomen gibt es den treffenden englischen Ausdruck: „Shit­storm“. Das bedeutet auf deutsch etwa „Empörungswelle“. Der Begriff setzt sich aus den englischen Worten „shit“, also „Scheiße“ und „storm“, also „Sturm“ zusammen. Er steht für die massenhafte öffentliche Entrüstung im Internet, die sachliche Kritik mit zahlreichen unsachlichen Beiträgen vermischt. Oft werden daraus Beleidigungen, Bedrohungen und offene Aggression. Es zeigt: Das Internet ist eine praktische und hilfreiche Erfindung, kann allerdings auch als Waffe eingesetzt werden – zur Wahrheitsfindung trägt es allerdings oft nur wenig bei. Etwas Gelassenheit täte der aufbrausenden Netzgemeinde gut. Auch und besonders im Fall Gauck, der vor Monaten im Internet noch als alleiniger Heilsbringer gefeiert wurde.