Berlin. Die Grünen ziehen mit dem Spitzenduo Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin in den Bundestagswahlkampf 2013. Die Bundestagsvizepräsidentin und der Fraktionschef gewannen die Urwahl über die Spitzenkandidatur, wie die Grünen-Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke am Samstag in Berlin sagte. Die beiden setzten sich damit unter anderem gegen Parteichefin Claudia Roth und Ko-Fraktionschefin Renate Künast durch.
Süßes und Saures hat es gegeben, Dominosteine und Apfelscheiben, während fünf Stunden lang mehr als 35.000 Stimmzettel ausgezählt wurden. Die Grünen haben eine stressige Nacht hinter sich und erleben jetzt einen Morgen, an dem sie wieder einmal rundheraus mit sich zufrieden sind.
"Ich glaube, dass meine Partei immer für Überraschungen gut ist", sagt Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke, "anders als andere Parteien." Überraschung ist wenigstens zum Teil das treffende Wort an diesem Morgen.
Wahlergebnis überrascht Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke
Wer darf im nächsten Jahr die Grünen als Spitzengespann in den Bundestagswahlkampf führen? Das war die Frage, um die im Sommer die grüne Prominentenriege ein wochenlanges Gezänk veranstaltet hatte, um sie schließlich der Parteibasis zur Entscheidung zu überlassen. Jetzt liegt die Antwort vor, und die Bundesgeschäftsführerin gesteht: "Dieses Wahlergebnis war nicht, was ich am wahrscheinlichsten erwartet hätte."
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Freilich, dass der Partei-Zampano Jürgen Trittin als Sieger aus dem Rennen hervorgehen würde, damit konnte man rechnen. Mit dem imposanten Wert von 71,9 Prozent der gültigen Stimmen sieht sich Trittin jetzt vom Parteivolk als Spitzenmann inthronisiert.
An seiner Seite wird aber nicht, wie Beoabachter erwartet hätten, die Fraktionsvorsitzende Renate Künast den Wahlkampf bestreiten oder Parteichefin Claudia Roth. Beide hatten sich Hoffnungen gemacht. Sondern die Bundestagsvize- und protestantische Synodalpräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Sie belegte mit 47,3 Prozent, wenn auch weit hinter Trittin, den zweiten Platz.
Von der klugen "Balance zwischen Kontinuität und Erneuerung"
Ein Mann, eine Frau. Ein "Linker", eine "Realpolitikerin". Ein Westdeutscher, eine ehemalige DDR-Bürgerin. Schöner hätten die Wähler dem Proporz, diesem grünen Urbedürfnis, nicht Genüge tun können. Von der "Weisheit" der Basis schwärmt die Parteigeschäftsführerin, der die Verkündung des Ergebnisses obliegt. Von der klugen "Balance zwischen Kontinuität und Erneuerung".
Für die Kontinuität steht in dieser Kombination Trittin, der seit zwei Jahrzehnten in promineten Funktionen in der Partei mitmischt. Neben ihm mochten die Grünen offenbar ken zweites allzu altbekanntes Gesicht dulden. Künast musste sich mit 38,6 Prozent begnügen; ihre alles andere als überzeugende Vorstellung als Spitzenkandidatin im Berliner Wahlkampf im Spätsommer vorigen Jahres hängt ihr wohl noch immer nach. Besonders bitter indes muss der Wahlausgang für Claudia Roth sein, die sich stets als Königin der grünen Herzen empfand und jetzt mit 26,2 Prozent abgemeiert wurde. Ob sie überhaupt noch einmal als Parteichefin antreten kann?
Natürlich, beteuern die beiden Gewinner, als sie einige Stunden nach Bekanntgabe ihres Sieges erstmals gemeinsam vor einem Medienpublikum stehen. Sie wünsche sich auf dem Parteitag am nächsten Wochenende ein gutes Ergebnis für Roth, wenn diese sich zur Wiederwahl stellt, sagt Göring-Eckardt: "Das Ganze funkioniert nur, wenn wir zusammenstehen."
"Die Grünen sind die Mitmachpartei Deutschlands"
Nein, kein Wermutstropen soll diesen Tag trüben, an dem die Grünen, so sehen sie es doch selbst, aller Welt demonstriert haben, wie man aus der Not eines drohenden innerparteilichen Zerwürfnisses die Tugend einer Sternstunde der Demokratie macht. "Wir haben als Grüne Parteiengeschichte geschrieben", begeistert sich Trittin: "Die Grünen sind die Mitmachpartei Deutschlands." Und der frisch gekürte Spitzenmann gibt sich gleich ein ehrgeiziges Ziel vor: Es gelte, auf das bislang beste Bundestagswahlergebnis, die 10,8 Prozent von vor drei Jahren, "noch eine Schippe draufzulegen".
Dass die anderen Parteien gut beraten wären, sich an dem grünen Basisvotum ein Beispiel zu nehmen, meint auch Geschäftsführerin Lemke: "Die Politik muss raus aus Hinterzimmerentscheidungen." Die nächste Sternstunde der grünen Mitmachdemokratie ist jedenfalls schon terminiert: Anfang Juni sollen die Mitglieder über die programmatischen Schwerpunkte des Bundestagswahlkampfes abstimmen.
Das Ergebnis der Grünen-Urwahl
- Jürgen Trittin: 71,93 Prozent
- Katrin Göring-Eckardt: 47,31 Prozent
- Renate Künast: 38,56 Prozent
- Claudia Roth: 26,18 Prozent
- Patrick Held: 2,43 Prozent
- Werner Winkler: 1,33 Prozent
- Nico Hybbeneth: 1,03 Prozent
- Peter Zimmer: 1,01 Prozent
- Markus Meister: 0,49 Prozent
- Friedrich Wilhelm Merck: 0,46 Prozent
- Hans-Jörg Schaller: 0,43 Prozent
- Alfred Mayer: 0,42 Prozent
- Franz Spitzenberger: 0,36 Prozent
- Roger Kuchenreuther: 0,35 Prozent
- Thomas Austermann: 0,32 Prozent
Außerdem gab es unter den 35.065 abgegebenen gültigen Stimmen 76 Enthaltungen (0,22 Prozent) und 147 Nein-Stimmen (0,42 Prozent).
Duo Steinbrück-Trittin muss Machtoption noch vermitteln
Sie wollen gemeinsam die nächste Bundesregierung anführen, sind aber in der wichtigsten Nebensache der Welt nicht einer Meinung: Beim Fußball scheiden sich die Geister von Peer Steinbrück und Jürgen Trittin. Der eine ist Fan von Borussia Dortmund, der andere Anhänger von Werder Bremen - nicht nur, weil Grün die Vereinsfarbe des Clubs ist, sondern weil Trittin gebürtiger Bremer ist.
Anderes haben der designierte SPD-Kanzlerkandidat und das Alphatier der Grünen gemeinsam: Beide sind alte Hasen in der Politik, scharfzüngige Redner, und beiden liegt die Rolle des Polarisierers - gute Voraussetzungen für einen Wahlkampf, wenn es darauf ankommt, durch scharfe Abgrenzung vor allem von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zu mobilisieren. Die rot-grüne Machtoption müssen sie aber erst noch glaubhaft machen: Eine klare Wählerbewegung zugunsten von "Steinbrück plus Trittin" statt "Merkel plus ?" ist bisher nicht auszumachen.
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Dem designierten Kanzlerkandidaten hat Trittin voraus, dass er als gewichtigerer Teil der grünen Doppelspitze das Votum der Parteibasis im Rücken hat. Die Partei verspricht sich von der Urwahl auch einen Mobilisierungsschub. Den Bewerber Steinbrück haben indes drei Männer unter sich ausgemacht: Als Kandidat des sozialdemokratischen Herzens wird Steinbrück, der seine Genossen einst Heulsusen schalt, nicht gelten. Der Nominierungsparteitag am 9. Dezember wird ihn dennoch geschlossen auf den Schild heben. Trittin hat über Jahrzehnte als Parteichef, Umweltminister und Fraktionschef die Politik der Grünen mitbestimmt und geformt - in eine führende Funktion in Partei oder Fraktion hat Steinbrück sich nie einbinden lassen.
Start ohne Rückenwind für Steinbrück und Trittin
Nach Ansicht des Meinungsforschers und Forsa-Chefs Manfred Güllner werden Steinbrück und Trittin nicht mit Rückenwind starten: "Es ist nicht das Traumpaar der deutschen Politik", sagte Güllner Reuters. "Es ist nicht das politische Duo, von dem die Leute sagen, die machen es besser." Zudem sei die politische Großwetterlage eher nachteilig: Es gebe keine Wechselstimmung. "Bei allen punktuellen Unzufriedenheiten mit Schwarz-Gelb - kaum jemand glaubt, dass es mit Rot-Grün besser würde."
Vor dem rot-grünen Duo liegt die Aufgabe, dies zu ändern. Trotz mancher Vorbehalte sehen Grüne in Steinbrück die ideale Ergänzung zu ihrem Vormann, da er weniger attraktiv für grüne Wähler sei als es SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier gewesen wäre - für die rot-grüne Stimmenmaximierung sei es vielversprechender, wenn Steinbrück "Wähler zwischen SPD und CDU von rechts dazuhole". Für die mehrheitlich weibliche Grünen-Wählerschaft sei zudem wichtig, dass Trittin neben sich eine Frontfrau habe - als die sich nun Katrin Göring-Eckardt durchsetzte. Die Ostdeutsche steht nicht für die Gründergeneration der Grünen, ist gleichwohl als frühere Vorsitzende der Bundestagsfraktion eine erfahrene Politikerin. Sie kann zudem punkten mit einem sozialen Profil, auch wenn sie ihr Amt als Präses der EKD jetzt ruhen lassen wird.
Strategen bei SPD und Grünen setzen auf einen eigenständigen Wahlkampf beider Parteien, der ein gemeinsames Ziel habe. Differenzen sind eingeplant, klassische Felder dafür sind die Energie- und die Industriepolitik, auch Infrastrukturthemen. Für ihr Debakel 2009 macht die SPD auch verantwortlich, dass ihr aus der großen Koalition heraus keine klare Differenzierung gelungen sei. Gegen eine Kanzlerin, die Themenklau nach dem Muster der "asymmetrischen Demobilisierung" betreibt, fällt das nicht leichter. Als ein Gewinnerthema aber machen SPD und Grüne die Bildung aus. Das SPD-Konzept, über höhere Steuern mehr Geld in die Bildung zu stecken, dürfte sich Merkel kaum zu eigen machen.
Grünen-Haudegen gegen Grünen-Fresser?
Der mit 58 Jahren jüngere Trittin, der 1985 in Niedersachsen erstmals in einen Landtag einzog, ist der in Wahlkämpfen sogar erfahrenere Haudegen. Der 65-jährige Steinbrück begann seine politische Laufbahn in der Exekutive, in den 70er Jahren als Referent im Bundesbauministerium. Erst im Jahr 2000 wurde er in Düsseldorf in den Landtag gewählt. In Nordrhein-Westfalen erwarb er sich in der rot-grünen Koalition als Ministerpräsident von 2002 bis 2005 den Ruf eines Grünen-Fressers.
"Trittin hat die Koalition einst in Niedersachsen gemacht und im Bund. Er muss vor Steinbrück keine Angst haben", meint der Fraktionschef der Grünen im NRW-Landtag, Reiner Priggen. Trittin habe mit dem zu Alleingängen neigenden damaligen Ministerpräsidenten und späteren Kanzler Gerhard Schröder einschlägige rot-grüne Erfahrungen gemacht hat.
Nicht ausgeräumt ist bei manchen Grünen das Misstrauen, die SPD könnte sich entgegen allen Beteuerungen mit einer großen Koalition zufriedengeben. Steinbrück hat versucht, dieser Befürchtung durch die klare Ansage entgegenzutreten, einem Kabinett Merkel werde er kein zweites Mal angehören. Darüber, dass Steinbrück mit der Debatte über seine Nebeneinkünfte seinen Start gründlich verstolpert hat, sind sich Mitglieder beider Parteien einig.
Fußball-Fan Peer Steinbrück
Das rot-grüne Spitzen-Duo wird zeigen müssen, ob es sich beim Angriff auf Schwarz-Gelb die Bälle zuspielen kann. In ihrer Lust an verbaler Provokation und in der rhetorischen Schärfe erscheinen beide wesensverwandt. Unterschiede zeigen sich wieder beim Umgang mit dem Fußball: Seinen Posten im Aufsichtsrat der börsennotierten Dortmunder Borussia gibt Steinbrück auch für die Kanzlerkandidatur nicht her. Trittin räumt der politischen Überzeugung Vorrang ein: Sein Ehrenamt als Umweltbotschafter von Werder Bremen gab er im August auf, nachdem der Verein Wiesenhof als Trikotsponsor verpflichtet hatte. Trittin lehnte die Hähnchenmästerei als "Teil des agrarindustriellen Systems" ab. (mit rtr)