Berlin. Im Interview erklärt Konzernvorstand Grube, warum der Weiterbetrieb des Altkraftwerks in Datteln für den Bahnverkehr vorerst unumgänglich ist . Dafür müsse nun die Landesregierung sorgen. Und er spricht über die täglich sechs Suizide auf den Schienen, nach denen die betroffenen Strecken stundenlang stillgelegt werden müssen.
Drei Viertel des Stroms, den die Bahn in NRW braucht, produziert das Kohlekraftwerk Datteln. Im Dezember muss es stillgelegt werden. Das neue, Datteln IV, darf laut Gerichtsbeschluss nicht ans Netz. Welche Folgen hat das?
Rüdiger Grube: Wir machen uns große Sorgen. Wir lassen derzeit Umrichter bauen, die uns helfen werden. Aber die sind nicht vor Anfang 2014 fertig. Wir brauchen also den Strom aus den Kraftwerksblöcken I bis III dringend weiter. Der Ausweg wäre eine Duldung für den Weiterbetrieb. Wir wissen, dass die Landesregierung daran intensiv und engagiert arbeitet. Aber wir haben den Entscheid noch nicht, und der Winter steht bevor.
Eine Duldung kann per Klage angefochten und gestoppt werden.
Grube: Das ist so. Aber wenn die Stilllegung kommt und nichts passiert, ist die Gefahr groß, dass die Bahn an sehr kalten Wintertagen in den Morgenstunden Engpässe bei der Versorgung haben könnte. In solchen Fällen müssten wir, um einen Zusammenbruch des Netzes zu vermeiden, Züge herausnehmen. Wir haben darüber im Vorstand geredet: Das könnten bis zu 30 Prozent des Zugbetriebs in NRW sein.
Kabeldiebstahl soll eingedämmt werden
Was erwarten Sie in dieser Lage von der Landesregierung?
Grube: Nordrhein-Westfalen ist für uns das wichtigste Bundesland. 30 000 Beschäftigte. 21 Millionen Fernreisende im Jahr. 306 Millionen im Regionalverkehr. Sie können sich vorstellen, was das Thema Datteln für uns bedeutet. Also: Der Duldungsbescheid muss so ausgeführt sein, dass mögliche Klagen dagegen keine Chance haben. Wir hoffen, wir erhalten im November Klarheit. Wenn das nicht der Fall ist, werde ich Ministerpräsidentin Kraft um ein Gespräch bitten.
Die Bahn sagt, sie ist pünktlicher geworden. Aber Ausfälle und Verzögerungen bereiten Ihnen auch unvorhersehbare Zwischenfälle: Suizide gehören dazu. Wie gehen Sie damit um?
Grube: Das ist ein ernstes Thema. Die Zahl der Selbstmorde in Deutschland geht eher zurück. Bei der Bahn ist es dagegen umgekehrt. Im Streckennetz kommt es an manchen Tagen auf bis zu sechs Suizide. Natürlich wirkt sich das im Betrieb aus. Die Klärung der Vorgänge nimmt Zeit in Anspruch. Manchmal bleiben Züge stundenlang stehen. Wir führen Gespräche mit den Bundesländern, um diese Zeitspanne zu verkürzen. Wichtig ist, dass sofort die Bundespolizei benachrichtigt wird und der Staatsanwalt dann überall sehr zügig entscheiden kann, bis die Strecke freigegeben werden kann.
Blockiert werden Sie auch durch die Diebstähle von Kupferdrähten…
Grube: …ein Wahnsinn. Die Diebe gehen selbst das Risiko ein, beim Kontakt mit Starkstrom getötet zu werden. Für 15 Millionen Euro wurde 2011 Buntmetall entwendet. 11 000 Züge wurden behindert, weil Leitungen unterbrochen waren.
Der Trend hält an?
Grube: Steigende Rohstoffpreise ziehen Kriminelle an, aber unsere Maßnahmen beginnen zu greifen, auch in NRW. Wir ersetzen Kupfer schon durch Aluminium, verstärken den Einsatz von Videoüberwachung und erhoffen uns auch Erfolge durch das Anbringen einer künstlichen DNA. Das kann Diebe überführen.
Wie die Bahn sich auf älter werdende Reisende einstellt
Auch Bahnkunden werden älter. Wie wollen Sie Fahrgästen helfen, die heute schon darüber klagen, dass sie die zu kleinen Nummern an den Sitzplätzen und die digitalen Wagenanzeigen an den Waggons nicht lesen können?
Grube: Das muss sich ändern. In den neuen IC-X-Zügen, die wir ab 2016 bekommen, werden beispielsweise auch die Ziffern wesentlich leichter erkennbar sein. Wir rüsten ältere ICE und IC-Züge mit einem dreistelligen Millionenprogramm um, die ersten dieser IC gehen jetzt in den Betrieb, zunächst auf der Strecke Köln-Hamburg. Alle neuen Fernzüge, die wir kaufen, werden eine Hebebühne für Rollstuhlfahrer haben. Und unser Kundenbeirat ist im Vorfeld solcher Investitionen sowieso dabei und gibt wichtige Empfehlungen.
Die demografische Entwicklung ist für Sie also bedeutend?
Grube: Sehr bedeutend. Die Bahnhöfe in Duisburg, Dortmund, Münster und Essen zum Beispiel werden komplett barrierefrei umgebaut. Es gibt dann Blindenleitstreifen, verbesserte Bahnsteigbeleuchtungen, leuchtstarke Fahrtzielanzeiger. Bis 2015 soll die Barrierefreiheit an 350 weiteren Stationen verbessert werden. Alle 82 DB-Informationen werden mit Induktionsschleifen für Hörgeschädigte ausgestattet, mit Informationen in der Schrift für Sehbehinderte und Bedientischen für Rollstuhlfahrer. Wir schulen Servicemitarbeiter in der Hilfe für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste, zum Beispiel beim Ein- und Aussteigen. 1400 stehen in den Bahnhöfen zur Verfügung. 2011 wurden in NRW 52 000 solcher Hilfestellungen organisiert.
Noch in dieser Woche will der Bundesrat den Einsatz von Fernbussen erlauben. Fürchtet die Bahn die neue Konkurrenz so, dass sie selbst in das Geschäft stärker einsteigen wird?
Grube: Wir beobachten den Markt. Wir werden irgendwann entscheiden, ob wir unser ohnehin schon großes Engagement noch ausbauen. Aber im Moment sind wir eher zurückhaltend.
Die Buslinie Touring will Tickets für neun Euro anbieten…
Grube: Wettbewerb belebt das Geschäft. Aber wir als DB sehen das sehr gelassen.
…auch die Lufthansa will künftig im Stundentakt fliegen.
Grube: Derzeit stellen wir doch fest, dass immer mehr Menschen auf die Bahn umsteigen. Im ersten Halbjahr haben wir 40 Millionen Fahrgäste mehr gehabt. Pünktlichkeit, Qualität und Service sind für uns die entscheidenden Punkte. Wenn wir dort keine Schwäche zeigen, wird der Gewinner der modernen Mobilität die Bahn sein. Warum bieten denn Anbieter von Premium-Autos ihren Kunden beim Autokauf schon eine Bahncard 100 zusätzlich an? Schon jetzt gibt es auf vielen innerdeutschen Strecken keine Flugverbindungen mehr. Und ich sage voraus: Dieser Trend wird sich fortsetzen.
Wie die Bahn den Rhein-Ruhr-Express doch noch verwirklichen will
Die wichtigste Verbindung für das Ruhrgebiet könnte der Rhein-Ruhr-Express RRX sein – wenn er kommt. Warum zieht sich das so in die Länge?
Grube: Das Rhein-Ruhr-Gebiet ist die am dichtesten bevölkerte Gegend in Deutschland überhaupt. Der RRX ist enorm wichtig, und er soll auf einer Strecke rollen, die nicht völlig neu gelegt, sondern ausgebaut werden muss. Um das zu verwirklichen, ziehe ich mit NRW-Verkehrsminister Groschek an einem Strang. Die Bahn hat selbst 25 Millionen Euro für die Planung zur Verfügung gestellt. Nur: Für die Infrastruktur, also den Bau, ist der Bund zuständig, und da wird es schwierig: Der Topf für solche Vorhaben sieht bundesweit jährlich 1,3 bis 1,5 Milliarden Euro vor. Daraus muss der RRX, der über zwei Milliarden Euro kosten wird, finanziert werden. Es sind aber deutschlandweit konkurrierende Projekte für insgesamt 15 Milliarden beantragt. Der Topf ist also viel zu klein. Um so wichtiger ist es, sich gemeinsam für die Verwirklichung des RRX zu engagieren.
Wesentlich weiter ist der dreigleisige Ausbau der Güterzug-Strecke Betuwe von Rotterdam ins Ruhrgebiet gediehen. Die Planung ist fertig. Können Sie den Anwohnern Ängste nehmen, dass sie künftig nachts nicht mehr schlafen wegen des Lärms?
Grube: Wir werden die Bevölkerung umfassend informieren und nehmen ihre Ängste sehr ernst. Generell wollen wir als Bahn den Lärm des Schienengüterverkehrs bis 2020 um die Hälfte verringern.
Wie geht das?
Grube: Vor allem an der Quelle, an den Fahrzeugen, und nicht nur über hohe Lärmschutzwände. Flüsterbremsen sind dazu geeignet. Aber sie sind auf europäischer Ebene schwer durchsetzbar und auch teuer. Da müssen wir noch ziemlich dicke Bretter bohren, aber davon lassen wir uns nicht abschrecken, denn wir nehmen die Sorgen der Anwohner sehr ernst.
Würde ein Tempolimit helfen?
Grube: Davon halten wir wenig. Wir würden dadurch weniger Verkehr auf der Schiene haben und noch mehr Güterverkehr auf die ohnehin schon überfüllten Straßen drängen. Das will niemand.
Die zweite Güterstrecke in der Debatte ist der „Eiserne Rhein“ zwischen Antwerpen und dem Rheinland. Sind die Pläne realistisch?
Grube: Sowohl für den Bund als auch für uns hat der Eiserne Rhein keinen Vorrang. Die Strecke wäre sicher wünschenswert, dann auf der alten Trasse, die zweigleisig war. Aber über eine Finanzierungsregelung besteht, so weit wir das wissen, kein Konsens. Und die vom NRW-Verkehrsministerium gewollte Neubaustrecke entlang der Autobahn 52 verursacht weitere Kosten, und Belgien hat es abgelehnt, sich an solchen Mehrkosten zu beteiligen.