Recklinghausen. . Bei den Wehrdienstleistenden hat Bundeswehr in diesem Jahr ihr Soll bereits mehr als erreicht. Mit bisher 8100 Freiwilligen „wurde die Zielvorgabe, mindestens 4000 in einem Jahr zu erreichen, bereits deutlich überschritten“, sagte eine Sprecherin. Trotzdem hakt es noch bei der Umsetzung der Reform.
In dem wilhelminischen Prachtbau ging es über 100 Jahre lang eigentlich nur um Zuständigkeiten. Die Mitarbeiter des Kreiswehrersatzamtes Recklinghausen knüpften da an die Tradition der Arbeitsweise des Amtsgerichts an, das zuvor lange Zeit in dem Sandsteinpalast residierte. Seit etwas über einem Jahr ist der bürokratische Muff jedoch einer Form von Aktivität gewichen, die es bisher so nicht gab. „Wir mussten uns komplett umstellen. Jetzt kommen keine Wehrpflichtigen, die man einsortiert oder ausmustert, sondern Kunden, die wir auch halten wollen“, sagt Anke Rohmann, Leiterin des Amtes, das im Zuge der Bundeswehrreform Ende November Geschichte sein soll. Dann soll die Beratung im Karrierezentrum Düsseldorf zentral für NRW erfolgen.
Bis dahin werden hier junge Männer und Frauen aus einem Einzugsgebiet von Wesel bis Arnsberg beraten, die Soldat werden wollen. Wie das konkret auszusehen hat, haben die Berater der freiwillig Wehrdienstleistenden bisher nicht erfahren. „Seien Sie kreativ und engagiert“, habe der Auftrag aus Berlin gelautet, als 2011 die vom Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg initiierte Neuausrichtung der Bundeswehr umgesetzt wurde.
Kreativ waren sie in Recklinghausen. Da die zivilen Mitarbeiter weder geschult wurden noch einen Leitfaden erhalten haben, wie sie den freiwilligen Kandidaten die Bundeswehr für 7 bis 23 Monate schmackhaft machen sollen, haben die Berater selbst eine dicke Mappe erstellt. Laptops gibt es nicht. In Klarsichthüllen präsentieren sie die Fakten zum Freiwilligen Wehrdienst, informieren über die Perspektiven – auch über die tödlichen Risiken im Einsatz fern der Heimat.
25 Prozent brechen ab
Unter zwei Stunden kommt hier kein Bewerber weg. Eher sind es vier, wie es Chris an diesem Sommertag erlebt. Der 18-Jährige aus Gelsenkirchen hat den Realschulabschluss in der Tasche, aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Jetzt hockt er unsicher auf einem braunen Schalensitz und wartet auf die medizinische Untersuchung. Sein Plan: zehn Monate freiwilliger Wehrdienst zur Überbrückung.
„Zur Überbrückung“, das hören die Wehrdienstberater häufig, wenn sie nach der Begründung fragen, warum ein junger Mensch zur Bundeswehr möchte. Knapp 25 Prozent brechen nach ein paar Wochen wieder ab. „Da sind wir nicht schlechter als die Ausbildungsbetriebe der IHK“, sagt Berater Jörg Schwitanski. Die verlangten 4000 bis 5000 Freiwilligen pro Jahr habe man bereits jetzt erreicht.
Früher simuliert, heute interessiert
David will länger bleiben – 16 Jahre und Offizier werden. Der 20-Jährige aus Hamm möchte bei der Bundeswehr Luft- und Raumfahrttechnik studieren und später mal einen Hubschrauber fliegen. Sein Entschluss ist bereits vor dem Abi entstanden. Stabsfeldwebel Guido Schenkel muss da keine Überzeugungsarbeit mehr leisten: „Der David hat einfach Bock drauf, Hubschrauber zu fliegen.“ Schenkel ist Karriereberater für Berufs- und Zeitsoldaten. Mit lebendigen Augen, ausladenden Gesten spricht er voller Energie von den Möglichkeiten, die der Arbeitgeber Bundeswehr bietet. Teamgeist, Verantwortung, ein bezahltes Studium… Schenkel könnte auch einen Veganer davon überzeugen, in ein Steak zu beißen. Aber ehrlich müsse man dabei schon bleiben. Im Gespräch mit David lässt er bei aller Begeisterung nicht aus, dass Umzüge genau so zum Beruf eines Zeitsoldaten gehören können wie der Tod im Auslandseinsatz.
Selbst freiwillig Wehrdienstleistende können nach Afghanistan, aber dafür müssten sie mindestens für 15 Monate dienen. Für den Überbrücker Chris zunächst keine Option. „Ich will erst mal Geld verdienen, selbstständiger werden und Disziplin lernen“, sagt er leise. Und wenn ihm die Bundeswehr nach zehn Monaten immer noch gefällt, bleibt er vielleicht da, um die Welt kennen zu lernen. Am Ende kann Chris sich sogar vorstellen, Heeresflieger zu werden. Doch dafür muss er auch fit genug sein. „Früher haben die jungen Männer alles versucht, um ausgemustert zu werden, heute wollen sie unbedingt als tauglich eingestuft werden“, sagt Dr. Volker Hädrich, seit 27 Jahren Arzt bei der Bundeswehr. Krankheiten und Verletzungen würden so lange wie möglich verschwiegen – schließlich geht es um eine berufliche Chance, für manche vielleicht um die letzte.