Berlin. Eine bundesweite Umfrage mit 7500 Schülern schockiert nicht nur Politikwissenschaftler. Deutsche Schüler kennen nur unzureichend die Unterschiede zwischen Demokratien und Diktaturen. Besonders schlecht schnitten bei politischen Fragen die Schüler aus NRW ab.
Viele Jugendliche können einer Studie zufolge nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden. Rund 40 Prozent sehen kaum Unterschiede zwischen Nationalsozialismus, der DDR sowie der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung, wie die am Mittwoch vorgestellte Untersuchung der FU Berlin ergab. Diese Schüler glauben demnach, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte seien in allen vier Systemen etwa gleich ausgeprägt.
In der Befragung des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin ordnete nur etwa die Hälfte der Schüler den NS-Staat zweifelsfrei als Diktatur ein, die DDR stufte nur gut ein Drittel als diktatorisches System ein. Zugleich schätzte nur rund die Hälfte der Befragten die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung als demokratisch ein, lediglich rund 60 Prozent halten das wiedervereinigte Deutschland für eine Demokratie.
Schüler wissen zu wenig über Politik und Geschichte - NRW schneidet besonders schlecht ab
Ursache dieser Fehleinschätzungen ist nach Einschätzung der Forscher um den Politikwissenschaftler Klaus Schroeder das geringe politisch-historische Wissen von Schülern. Als Konsequenz der Ergebnisse sei eine wertorientierte Kenntnisvermittlung im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Schulunterricht dringend geboten, betonten die Autoren der Untersuchung.
Befragt wurden zwischen 2009 und 2012 knapp 5000 Schüler der Klassenstufen neun und zehn in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Außerdem basiert die Studie auf zusätzlichen Befragungen von mehr als 2000 Schülern, die Gedenkstätten besuchten oder im Laufe eines Jahres mehrfach befragt wurden. Beim politisch-historische Wissen schnitten Schüler aus Thüringen und Sachsen-Anhalt am besten ab, am schlechtesten Schüler aus Nordrhein-Westfalen.
Jugendliche mit Gedenkstätten-Erfahrung sind nicht schlauer
Schüler mit DDR-Eltern oder mit mindestens einem ausländischen Elternteil sahen bei der Befragung den Nationalsozialismus und die DDR positiver als Schüler, deren Eltern ihre Wurzeln in der alten Bundesrepublik haben. Die Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung sahen Jugendliche mit DDR-Eltern sowie Migrantenkinder dagegen negativer als ihre Altersgenossen mit BRD-Eltern.
Politiker der DDR
Zusätzlich erforschten die Wissenschaftler den Einfluss von Besuchen in Gedenkstätten. Dabei stellten sie keinen eindeutig positiven Effekt dieser Besuche fest. Als Hauptgrund nannten die Forscher die mangelnde Einordnung der in den Gedenkstätten angebotenen Informationen in große Zusammenhänge. Hier seien vor allem die Schulen gefordert. Sie sollten statt auf ein "Gedenkstättenhopping" auf soliden Geschichtsunterricht setzten, der die gründliche Vor- und Nachbereitung von Gedenkstättenbesuchen einschließen müsse.
Kulturstaatsminister Neumann (CDU): Schulunterricht gefordert
Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) erklärte zu den Studienergebnissen, es müsse "alle Verantwortlichen in Deutschland wachrütteln", dass eine Mehrheit der befragten Jugendlichen nur über sehr geringe zeitgeschichtliche Kenntnisse verfüge. Neumann verwies darauf, dass der Bund in den vergangenen Jahren die Mittel für die Aufarbeitung beider Diktaturen in Deutschland um 50 Prozent erhöht habe, "um authentische Orte der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur zu erhalten und Gedenkstätten als außerschulische Lernorte auszubauen".
Dies könne aber "nur eine Ergänzung und kein Ersatz für entsprechenden Schulunterricht sein", unterstrich Neumann. Deshalb blieben die Länder nachdrücklich aufgefordert, auch ihren Beitrag in den Schulen zu verstärken. (afp)