Essen. . Der „Chancenspiegel“ vergleicht alle 16 Bundesländer und liefert erstmals Antworten auf die Frage: Wie gerecht und leistungsstark sind eigentlich unsere Schulsysteme? Ein erstes Ergebnis: Kein Land ist überall spitze, kein Land in allen Kriterien Schlusslicht – aber die Unterschiede zwischen den Ländern sind erheblich.

Die Pisa-Studie vor gut zehn Jahren brachte es an den Tag: Nirgendwo hängt der Schulerfolg der Kinder so stark vom sozialen Status der Eltern ab wie in Deutschland. Zusammen mit den schlechten Resultaten im Lesen, Rechnen und in den Naturwissenschaften ergab das den berühmten Pisa-Schock. Seither wurde viel über Chancengerechtigkeit diskutiert, doch fehlte bislang eine Datenbasis, die einen Vergleich der Bundesländer ermöglichte. Wieso gehört Sachsen stets zu den Pisa-Gewinnern? Warum ist Bayern in der Spitzengruppe? Weshalb schneiden die Stadtstaaten schlecht ab – und wo steht Nordrhein-Westfalen?

Diese Lücke will eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung und des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität (TU) Dortmund nun füllen. Der „Chancenspiegel“ vergleicht alle 16 Bundesländer und liefert erstmals Antworten auf die Frage: Wie gerecht und leistungsstark sind eigentlich unsere Schulsysteme? Ein erstes Ergebnis: Kein Land ist überall spitze, kein Land in allen Kriterien Schlusslicht – aber die Unterschiede zwischen den Ländern sind erheblich.

Voneinander lernen

Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der Schulsysteme werden in vier Kategorien bewertet: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe. An ihnen lasse sich ablesen, wie integrativ Schulsysteme sind, ob sie soziale Nachteile ausgleichen, Sitzenbleiber und Schulabsteiger vermeiden. Überdies: Welche Lesekompetenz vermitteln die Schulen, wie viele Schüler bleiben ohne Abschluss und wie viele erreichen die Hochschulreife (Zertifikatsvergabe)? Auch die Frage, wie groß die Chancen von Hauptschülern auf einen Ausbildungsplatz sind, floss in die Untersuchung ein. Im Kern beschreibt der „Chancenspiegel“, wie gut oder schlecht die Schüler gefördert werden.

„Die Bundesländer müssen mehr voneinander lernen“, sagt Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Stiftung, mit Blick auf die großen Unterschiede. So ist etwa in Sachsen der Anteil der Schüler, die in einer Förderschule unterrichtet werden, dreimal höher als in Schleswig-Holstein. In Sachsen besuchen dagegen drei von vier Schülern eine Ganztagsschule, in Bayern nicht einmal jeder zehnte. Für Dräger eine klare „Gerechtigkeitslücke“. Auch die Abhängigkeit von sozialer Herkunft und Lesekompetenz, die in Bremen fast doppelt so hoch ist wie in Brandenburg, gibt es ein Gefälle. Und im hochgelobten Bayern erreichen nur 37,2 Prozent der Schüler eine Hochschulzugangsberechtigung, während es in anderen Ländern mehr als die Hälfte sind.

Bayern steht schlechter da

Wo steht NRW? Weder vorne, noch hinten. Beim Punkt „Durchlässigkeit“ kann NRW noch lernen. Die Chance eines Kindes aus oberen Sozialschichten, das Gymnasium zu besuchen, ist 5,5-mal höher als die eines Kindes aus unteren Schichten. Im Bundesschnitt liegt der Faktor bei 4,5. Zum Vergleich: Bayern schneidet noch schlechter ab, hier sind die Chancen für ein Kind aus reichen Familien gar 6,5-mal höher – mit allen Konsequenzen für die Bildungskarriere.

Auch beim Schulwechsel sieht es in NRW nicht gut aus. Einem Wechsler in eine höhere Schulform stehen 8,5 Absteiger gegenüber. „Mit dem achtjährigen Gymnasium, G8, wurde der Aufstieg erheblich erschwert“, erklärt IFS-Direktor Wilfried Bos der NRZ. Der Bundes-Schnitt liegt bei eins zu 4,3. Bayern steht besser da: Ein Aufsteiger kommt auf nur 2,2 Absteiger. Spitze ist NRW indes bei der Zahl der Abiturienten. 54 Prozent erreichen die Hochschulreife (Bundesschnitt: 46,4 Prozent). Dies ist der höchste Abiturientenanteil aller Bundesländer – weit vor Bayern.

IFS-Direktor Wilfried Bos betont: Alle Bundesländer hätten Nachholbedarf. Die Zeit für ideologische Debatten sei vorbei.