Berlin. In dramatischen Appellen werben Fraktionschef Gysi und Parteipatriarch Lafontaine um die Einheit der Partei. Gysi spricht von einer möglichen Spaltung der Linken - Lafontaine will davon nichts wissen. Katharina Schwabedissen hat ihre Kandidatur zurückgezogen.
Aufbruch oder Auflösung? Für die völlig zerstrittene Linke geht es in diesen Stunden um Alles. Am Abend wählen die Delegierten auf ihrem Parteitag in Göttingen ihren neuen Vorstand. In dramatischen Appellen werben Fraktionschef Gregor Gysi und Parteipatriarch Oskar Lafontaine am Nachmittag um die Einheit der Partei. Dabei kommt es zum offenen Streit der Alphatiere, der die Gräben in der Linken erst recht offenbart.
Die Lage ist ernst. So ernst, dass Gysi offen mit der Spaltung der Partei droht. Wenn es nicht gelänge, eine kooperative Führung zu wählen, dann „wäre es besser, sich zu trennen“. Aus Gysis Sicht solle „keine mit Tricksereien mit übler Nachrede, mit Denunziation in jeder Hinsicht verkorkste Ehe“ geführt werden. Die Linke müsse begreifen, das sie im Osten eine Volkspartei und im Westen eine Interessenpartei sei. „Ich will nicht begreifen, dass es uns spaltet“, sagt Gysi in einer für ihn völlig untypischen Rede.
Kaum Applaus für Gysi von Wagenknecht
Für den üblichen Wortwitz ist dieses Mal kein Platz. Gysi - eigentlich rhetorisch brillant - redet leise, eindringlich und liest vom Blatt. Dann legt er sich mit den radikalen Kräften aus dem Westen, vertreten durch Lafontaine, an, die sich gegen den Reformkurs der Landesverbände aus dem Osten stemmen. Gysi geißelt deren Kritik, die ihn an die „Arroganz“ der alten Bundesländer bei der Wiedervereinigung erinnert.
Das sitzt. Fraktionsvize und Lafontaine-Partnerin Sahra Wagenknecht wirkt über weite Teile der Gysi-Standpauke wie versteinert und applaudiert so gut wie nie. Deren Fraktionskollege Ulrich Maurer vergräbt das Gesicht in den Händen, als wolle er sich verstecken.
Einmal bei der schonungslosen Analyse rechnet Gysi auch mit seiner Fraktion ab. Dort herrsche Hass. „Seit zwei Jahren befinde ich mich zwischen zwei Lokomotiven, die aufeinander zurasen“, sagt der Fraktionschef. „Und ich bin es satt.“
Lafontaine kontert
Dann betritt Lafontaine das Rednerpult – und sucht den offenen Streit zu Gysi. „Trotz aller Schwierigkeiten gibt es keinen Grund, das Wort Spaltung in den Mund zu nehmen“, poltert der 68-Jährige und redet sich in Rage. Mit hochrotem Kopf und sich überschlagender Stimme kritisiert er das „dumme Gerede von der Regierungsunwilligkeit“ der westlichen Landesverbände. Eben dies werfen die Reformer aus dem Osten ihren Kollegen vor. Sie finden, dass sich die Linke in den alten Ländern zu sehr an der SPD abarbeitet und damit in der Opposition einmauert. Spätestens ab diesem Zeitpunkt der Rede würdigt Gysi Lafontaine keines Blickes mehr und spendet nur noch Höflichkeitsapplaus, als die Kameras auf ihn gerichtet sind.
Die persönlichen Streitereien müssten aufhören, das werde nicht belohnt, sagt Lafontaine. Befindlichkeiten seien kein Grund, das politische Projekt in Frage zu stellen. Doch wie schwer die eigenen Befindlichkeiten wiegen, kann der Parteipatriarch nicht verbergen. So macht er klar, dass er mit Dietmar Bartsch nicht vertrauensvoll zusammenarbeiten könne.
Die Linke habe große politische Erfolge errungen, erinnert Lafontaine die Delegierten. Es gebe keinen Grund, dies nicht wieder zu versuchen. Doch noch ist völlig offen, welches neue Spitzenduo in der Partei den seit Monaten produzierten Scherbenhaufen ab morgen zusammenfegen darf – oder muss.
Doch kein weibliches Führungsduo
Die Vorstandswahlen werden sich bis in den späten Abend hineinziehen. Frühestens ab 19.30 Uhr startet der erste Wahlgang, wo nur Frauen antreten dürfen. Erst danach folgt der Wahlgang mit der gemischten Liste.
Das lässt Platz für Spekulationen. Die westdeutschen Landesverbände dürften zunächst die Ostdeutsche Katja Kipping unterstützen, um den Oberreformer Dietmar Bartsch zu verhindern und den schwäbischen Gewerkschafter Bernd Riexinger an die Spitze zu hieven. Kipping wollte eigentlich nur mit NRW-Landeschefin Katharina Schwabedissen ein Führungsduo bilden, aber diese hat ihre Kandidatur zurückgezogen. Sie kandidiert nun für den stellvertretenden Vorsitz.
Die ostdeutschen Landesverbände dürften Dora Heyenn aus Hamburg stützen, um Riexinger auszubremsen und den Weg für Bartsch zu ebnen. Denn nach guter Sitte sollte ein Vertreter der Doppelspitze aus den alten und einer aus den neuen Bundesländern stammen. Doch im Machtkampf der Flügel scheinen die Fronten nun so verhärtet, dass jeder Teil versucht sein könnte, seinen Protagonisten im zweiten Wahlgang ohne Rücksicht auf die Ost-West-Ausgewogenheit durchzudrücken. So besteht immer noch theoretisch die Möglichkeit, dass Wagenknecht im zweiten Wahlgang doch nicht antritt und eine Kampfkandidatur gegen Bartsch startet.
Klaus Ernst verabschiedet sich
Noch-Parteichef Klaus Ernst wird an der Linken-Spitze wohl keine Rolle mehr spielen. In seiner 45-münütigen Rede verabschiedet er sich von seinen Mitarbeitern im Karl-Liebknecht-Haus und tritt noch einmal gegen seine Genossen nach. „Solidarität heißt, dass man Kritik an der eigenen Partei nicht über die Medien austrägt, sondern sie den Genossen selber sagt.“ Es sind die Worte eines Enttäuschten. Seit Beginn seiner Amtszeit vor zwei Jahren stand Ernst unter Dauerfeuer aus den eigenen Reihen, wenngleich er daran freilich nicht unschuldig war. „Ich habe Fehler gemacht, ohne jeden Zweifel“, sagt der 57-Jähige und warnt die Genossen für die Zukunft: „Wenn Teile der Partei mit der neuen Führung umgehen wie mit der alten, werden wir wieder ein Problem haben.“ Als ob das das einzige Problem der Linken wäre...