Charkiw. Die inhaftierte ukrainische Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko ist nach tagelangem Hungerstreik vom Gefängnis in ein Krankenhaus verlegt worden. Dort soll Timoschenko im Beisein eines deutschen Arztes wegen eines Bandscheibenvorfalls behandelt werden. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) bezeichnete die Verlegung Timoschenkos in die Klinik als “Fortschritt“.

Seit Mittwoch wird im neunten Stock des Krankenhauses der staatlichen Eisenbahngesellschaft in der ukrainischen Stadt Charkiw die bekannteste Patientin des Landes behandelt: Am frühen Morgen wurde die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko (51) aus ihrer Zelle in die Klinik verlegt. In den vergangenen Wochen wurden ein paar Zimmer in der obersten Etage auf Vordermann gebracht. Doch mehr als kosmetische Renovierungsarbeiten, wie frische Farbe an den Wänden und neue Türen, waren das nicht.

Noch am Vortag der Verlegung Timoschenkos deuteten Bohrgeräusche auf Bauarbeiten hin. Wer bis nach oben in die neunte Etage fährt, wird von zwei Wachen aufgehalten. Sie dürfen niemanden durchlassen sagen sie, immerhin im freundlichen Ton. Auch für den behandelnden Arzt, den deutschen Professor und Neurologe von der Berliner Charité Lutz Harms, wurde offenbar ein Zimmer reserviert. "Er kann frei entscheiden, ob er im Hospital oder im Hotel übernachtet", sagte Raissa Moiseenko, stellvertretende Gesundheitsministerin der Ukraine, der Nachrichtenagentur dapd.

Deutscher Arzt hat Behandlung von Timoschenko begonnen

Aus Protest gegen Misshandlungen in der Haft hatte Timoschenko vor gut zwei Wochen einen Hungerstreik begonnen. Diesen will sie nach Angaben ihrer Tochter Jewgenija Timoschenko nun beenden. Die Inhaftierung der wegen angeblichem Amtsmissbrauch zu sieben Jahren Gefängnis verurteilte Timoschenko belastet auch die Beziehungen westlicher Länder mit der Ukraine. Das Land verschob am Dienstag einen von etlichen Staatsoberhäuptern boykottierten Regionalgipfel.

Timoschenko leidet an mehreren Bandscheibenvorfällen und kann sich wegen der starken Schmerzen kaum noch bewegen. Sie hat sich lange gegen eine Behandlung in einem ukrainischen Krankenhaus gewehrt, da sie eine absichtliche Infektion mit einem Virus fürchtet. Sie stimmte deshalb nur unter der Auflage, dass ein deutscher Arzt ihre Behandlung überwache, ihrer Verlegung zu.

Am späten Mittwochvormittag herrschte im Trakt, in den Timoschenko verlegt wurde, reges Treiben. Die weißen Flügeltüren mit Milchglas lassen sich nur durch einen Sicherheitscode öffnen. Die Wachen rufen das Personal heran. Als die Tür von einer ukrainischen Ärztin, die ihren Namen nicht nennen will, geöffnet wird, wird der Blick auf einen nagelneu renovierten Flur frei. Nur zwei Krankenschwestern sind zu sehen. Der deutsche Arzt Harms untersuchte seine Patientin am Morgen.

Krankenhaus hat gehobenen Standard

Das Krankenhaus gilt für ukrainische Verhältnisse schon als gehobener Standard. Die staatliche Eisenbahngesellschaft ist einflussreich, stellt sie doch das Hauptverkehrsmittel des Landes. Die Klinik wurde Ende der 70er-Jahre eröffnet und galt in der UdSSR als führend.

Doch im siebten Stock zeigt das ukrainische Gesundheitssystem sein wahres Gesicht. Sieben-Bettzimmer, Geruch nach Schweiß, Putzmittel und Urin, schmale, durchgelegene Betten und Patienten, die entweder auf dem Bett liegen oder dort apathisch sitzen und warten. Der Fahrstuhl funktioniert nur zum Teil, Schwestern mit OP-Besteck und blutigen Wattebäuschen und benutzten Kompressen kommen die schmale Treppe hinauf, sie vermeiden den Blickkontakt mit den Fremden. Der Arzt Sergeij Grünwald bleibt neugierig stehen und sagt leise: "Wir sind hier noch lange nicht auf Weststandard." Dann dreht er sich um und geht.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) bezeichnete die Verlegung Timoschenkos in die Klinik als "Fortschritt". Abseits der Diskussion um einen politischen Boykott der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine gehe es nun vorrangig darum, "dass Timoschenko eine angemessene medizinische Behandlung bekommt", sagte er in Brüssel. Westerwelle erinnerte zudem daran, dass noch weitere ehemalige Regierungsmitglieder inhaftiert sind.

Auch die Grünen-Politikerin und Osteuropa-Expertin Marieluise Beck zeigte sich erleichtert über die Verlegung, mahnte zugleich aber ebenfalls dazu, die Lage der gesamten Opposition in der Ukraine nicht außer Acht zu lassen. "Das eigentliche Problem in der Ukraine ist die Tatsache, dass unter Missbrauch der Justiz die politische Opposition enthauptet wurde", sagte Beck. In der jüngsten Diskussion über einen Boykott der Fußball-EM durch die Politik sei "zu oft" vergessen worden, dass drei ehemalige Minister der Regierung Timoschenkos "unter fadenscheinigen Vorwürfen" zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt worden seien.

Der Fall Timoschenko hat eine anhaltende Debatte über einen politischen Boykott der Fußball-EM in der Ukraine ausgelöst, die ab dem 8. Juni auch in Polen stattfindet. Charkiw ist einer der vier ukrainischen Austragungsorte. Im Stadion der ostukrainischen Stadt findet auch ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft statt.(dapd/afp/rtr)