Berlin. Der Fall Timoschenko sorgt weiter für Aufregung im politischen Deutschland. SPD-Chef Sigmar Gabriel fordert seine Kollegen auf, nicht zur Europameisterschaft in die Ukraine zu reisen - und erntet dafür Zustimmung. Ein FDP-Politiker bringt sogar eine Verlegung der EM ins Spiel.
In Deutschland mehren sich die Forderungen nach einem Besucherboykott der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine. SPD-Chef Sigmar Gabriel rief alle Politiker dazu auf, nicht zu den Spielen in das Land zu reisen und so gegen die Behandlung der ukrainischen Oppositionsführerin Julia Timoschenko zu protestieren. "Im Zweifelsfall sollte man da nicht hinfahren", erklärte Gabriel am Samstag auf seiner Facebook-Seite. Grünen-Chefin Claudia Roth sagte, Politiker dürften "nicht die Kulisse für ein diktatorisches Regime abgeben". Auch Außenminister Guido Westerwelle äußerte sich schockiert über die Berichte, Timoschenko sei misshandelt worden. Sollten sie zutreffen, falle ihm die Vorstellung schwer, einfach wieder zur Tagesordnung zurückzukehren, sagte der FDP-Politiker der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung".
Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschuss im Bundestag, Tom Königs, richtete seinen Boykott-Aufruf auch an die Fußball-Fans. Sie sollten die in der Ukraine ausgetragenen Begegnungen vom EM-Partnerland Polen aus per Public Viewing verfolgen, sagte er im Deutschlandfunk. "Das wäre eine deutliche Demonstration, die dann über das, was Politiker machen, hinausgeht", sagte der Grünen-Politiker. Es sei ein Fehler, Ereignisse wie eine Fußball-EM an Orten auszutragen, an denen die Demokratie mit Füßen getreten werde. Die deutsche Mannschaft hat alle drei Vorrundenspiele in der Ukraine, das die EM gemeinsam mit Polen ausrichtet. Zudem gilt sie als einer der großen Favoriten des Turniers, dessen Endspiel für den 1. Juli in Kiew angesetzt ist.
Timoschenko klagt über Misshandlungen im Gefängnis
Die 51-Jährige wurde im vorigen Jahr zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt und klagt über Misshandlungen im Gefängnis. Die Verfahren gegen sie und andere Mitglieder der früheren Regierung sind in ihren Augen Schauprozesse, um die Opposition mundtot zu machen. Die Bundesregierung bemüht sich um eine Ausreisegenehmigung für die Politikerin, damit sie einen Bandscheibenvorfall in Deutschland behandeln lassen kann. Ein weiteres Verfahren gegen Timoschenko wurde am Samstag vertagt. Die Richter begründeten die Entscheidung mit ihrem gesundheitlichen Zustand. Weitere Anhörungen seien in Abwesenheit Timoschenkos nicht möglich, sagte Richter Kostjantyn Sadowski in Charkiw. Das Verfahren wegen Steuerhinterziehung soll nun am 21. Mai fortgesetzt werden.
In Timoschenkos Geburtsstadt Dnipropetrowsk waren am Freitag bei einer Anschlagserie 30 Menschen verletzt worden. Präsident Viktor Janukowitsch sagte, die Behörden hätten eine Belohnung von umgerechnet 190.000 Euro für Informationen ausgesetzt, die zur Ergreifung der Täter führen. Die Stadt ist kein EM-Spielort.
Timoschenko selbst ist nach den Worten ihrer Tochter dagegen, dass die Meisterschaft vollständig boykottiert wird und sich die Mannschaften verweigern. Die EM sei ein Symbol der europäischen Integration ihres Landes, sie werde der Opposition außerdem eine Bühne für ihren Protest bieten, sagte Jewgenia Timoschenko der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Ähnlich äußerte sich der ukrainische Boxweltmeister und Politiker Witali Klitschko in Spiegel online. SPD-Vize Olaf Scholz wandte sich in der "Welt am Sonntag" gleichfalls gegen einen Rückzug: Ein Boykott der Fußballspieler sei "ein sehr scharfes Schwert, dessen Einsatz sehr, sehr gut überlegt sein will."
Angela Merkel hat sich noch nicht festgelegt, ob sie in die Ukraine reist
Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Gernot Erler, unterstützte die Forderung nach einem demonstrativen Fernbleiben der Politiker. Dies sei angesichts der Lage im Land notwendig und angemessen, sagte er am Samstag der Nachrichtenagentur Reuters. "Ich zögere im Augenblick, Fußballfans zu sagen, fahrt da nicht hin."
Nach Gabriels Worten kann es keinen normalen Umgang mit der Regierung in Kiew geben, solange Menschen aus politischen Gründen in Haft gehalten und misshandelt werden. "Politiker müssen bei der EM aufpassen, dass sie nicht zu Claqueuren des Regimes werden. Denn sie sitzen in den Stadien möglicherweise neben Gefängnisdirektoren und Geheimpolizisten", erklärte der SPD-Chef. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte der "Welt am Sonntag", über ein Fernbleiben von Spielen sollte kurzfristig im Lichte der weiteren Entwicklung in der Ukraine entschieden werden. FDP-Generalsekretär Patrick Döring ging weiter. "Ich erwarte allerdings, dass offizielle Delegationen des Bundestages und der Bundesregierung wie Bundespräsident Gauck die Spiele in der Ukraine meiden", sagte er derselben Zeitung. Königs kritisierte Janukowitsch, der die Behandlung Timoschenkos zu verantworten hat. "Ich möchte eigentlich überhaupt keinen Politiker auf der Tribüne neben Janukowitsch sehen und dann den Diktator feiern", betonte er. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Freitag offengelassen, ob sie zur Europameisterschaft reist.
In dem von Königs geleiteten Ausschuss wurden erste Forderungen laut, das in sechs Wochen beginnende Turnier zu verlegen. Der europäische Fußballverband Uefa solle "ernsthaft seine Optionen prüfen, die gesamte Europameisterschaft oder einzelne wichtige Spiele nicht in der Ukraine stattfinden zu lassen", sagte das FDP-Ausschussmitglied Pascal Kober der "Welt am Sonntag".