Paris. Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy und François Hollande. Aber unbequeme Wahrheiten sagt keiner von ihnen den Wählern.
Präsidentschaftswahlen in der V. Republik folgen ganz anderen Ritualen als eine Bundestagswahl. Sie gleichen eher einer prachtvoll inszenierten Krönungsmesse als einem schlichten Urnengang. Mag die Wahl des Staatsoberhauptes noch so demokratisch über die Bühne gehen, das Ergebnis bleibt ein republikanischer Monarch: eine Art Bürger-König, der fünf Jahre lang im prachtvollen Élysée-Palast residiert und ähnlich opulent repräsentieren darf wie einst der Sonnenkönig.
Der gaullistische Amtsinhaber Nicolas Sarkozy und sein sozialistischer Rivale François Hollande liefern sich seit Wochen ein Kopf-an-Kopf-Rennen – mit leichten Vorteilen für den Herausforderer. Es ist ein langweiliger Wahlkampf, in dem nicht die Favoriten, sondern die rechtsextreme Marine Le Pen und der rote Volkstribun Jean-Luc Mélenchon die Akzente setzen.
Noch mal fünf Jahre Sarko? - Nein danke
Meistens kreist die Debatte weniger um Programme, sondern um die Ausstrahlung des Spitzenduos. „Monsieur Hollande hat nicht das Format eines Chefs“, stellte die Ex-Première-Dame Bernadette Chirac neulich fest. Nicolas Sarkozy ätzt auf dieselbe Weise gegen seinen Konkurrenten, indem er fortwährend darauf hinweist, dass dieser nie ein Regierungsamt innehatte und auf der Bühne der Staatsmänner ein „Nobody“ sei.
Ginge es allein um seine Bilanz, könnte Nicolas Sarkozy durchaus erhobenen Hauptes vor den Wähler treten. Doch offenbar hat er es sich mit den Franzosen verscherzt. Wer ist dieser Mann, der auf eine sprunghafte Amtszeit mit viel Zickzack zurückblickt? Vielleicht nur ein prinzipienloser Machtmensch? Die meisten stören sich an seiner Attitüde und sagen: Noch einmal fünf Jahre Sarko – Non merci!
Frankreich als Sorgenkind
Eine spürbare Wechselstimmung ist in der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas dennoch nicht auszumachen. Die meisten sehen nämlich in Hollande keineswegs die überzeugende Alternative zum unbeliebten Sarkozy. Hinzu kommt: Beide drücken sich vor der kniffligen Frage, wie sie den Patienten Frankreich wieder auf die Beine kriegen wollen.
„Die unbequeme Wahrheit“, überschreibt das neoliberale englische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ einen Bericht über den kritischen Zustand des Landes – und listet hinreichend bekannte Defizite auf: steigende Arbeitslosigkeit und dürftiges Wachstum, wachsende Schuldenlast und schrumpfende Wettbewerbsfähigkeit.
„Frankreich braucht dringend eine Strukturreform, sonst wird es zum Sorgenkind Europas, das andere ansteckt“, sagt der Frankreich-Kenner Joachim Bitterlich. Der langjährige Kohl-Berater, der an der Elite-Schule ENA studiert hat, mit einer Französin verheiratet ist und sich als „kritischer Freund“ des Landes versteht, bemängelt vor allem die erdrückende Allgegenwart des Staates. „Gewiss, die Franzosen schauen auf den Staat als den ewig währenden Spender“, so Bitterlich, „aber ganz anders als in Deutschland blockiert derselbe Staat den Markt“.
Revolution ja, Reform nein
Die Franzosen – ein Volk voller Widersprüche. 1789 beglückten sie die Welt mit der modernen Devise „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, mit den universal gültigen Menschenrechten und dem kostbaren Prinzip der Gewaltenteilung. Doch nun leben sie in einem zentralistischen, autoritär gegliederten Staat mit einem Wahl-Monarchen samt republikanischem Adel an der Spitze. Gleichheit? „Der soziale Aufzug ist kaputt“, klagt der Politikprofessor René Lasserre, Chef des Instituts für Deutschland-Studien. Brüderlichkeit? „Ich vermisse in Frankreich das Konsensprinzip, besonders den fruchtbaren Dialog von Arbeitgebern und Gewerkschaften“, erwidert Bitterlich.
Viele Franzosen haben längst begriffen, dass das Land weit über seine Verhältnisse lebt. Muss Frankreich sein überteuertes Sozialsystem so modernisieren, wie Gerhard Schröder es mit der Agenda 2010 getan hat? Joachim Bitterlich stimmt zu, erinnert aber an eine ernüchternde Erkenntnis, die besagt: Frankreich sei zwar fähig zur Revolution, aber nicht zur Reform.