Essen. Als Bundespräsident repräsentiert Joachim Gauck die Deutschen - dabei ist er doch in vielen Punkten ganz anders jene, die er vertritt. Das Volk liebt die Sicherheit, Gauck die Freiheit. Dennoch ist die Wahl des 72-Jährigen ein wunderbares Experiment. Ein Kommentar.

Mit Joachim Gauck werden die Parteien, die ihn gewählt haben, noch ihre Probleme bekommen. Weil das absehbar so ist, konnte Gauck für die Deutschen, die Parteien nicht mögen, zu einem Hoffnungsträger werden. Es könnte allerdings sein, dass sich das Volk irrt in diesem Mann. Es könnte auch sein, dass schon recht bald die Distanz zwischen den Deutschen und ihrem Staatsoberhaupt spürbar wächst. Es gibt einen Punkt, da ist Gauck völlig anders als die, die er repräsentiert.

Gauck liebt die Freiheit. Die Deutschen nicht. Das Volk ruft nach Sicherheit. Für die Mehrheit der Deutschen ist es die Aufgabe des starken Staates, materielle Sicherheit zu gewährleisten. Das halten sie für sozial und für gerecht. Gerade in Zeiten, da der globale Finanzkapitalismus den materiellen Wohlstand jedes Einzelnen zu bedrohen scheint. Und von oben kommt noch der Klimawandel. Alles zusammen macht aus den Deutschen ein eher ängstliches Volk, zukunfts-skeptisch statt zukunfts-freudig. Kritisch eingestellt gegen vieles Neue, zum Beispiel in der Technik.

Gauck ist der Gegenentwurf zum eher linken Zeitgeist

In allen diesen Punkten ist Gauck anders. Genau genommen, ist er der Gegenentwurf zum eher linken Zeitgeist. Gauck ist durch und durch liberal. Er ist liberal aus Erfahrung und liberal aus Überzeugung. Sozialismus hält er nicht für eine Verheißung, sondern eine Bedrohung. Der liberale Präsident Köhler predigte am Ende seiner Amtszeit gegen die freien Märkte, er nannte sie "Monster" Gauck wiederum nannte die Occupy-Bewegung, die gegen die Freiheit der Märkte einen weltweiten Protest angezettelt hat, "lächerlich". Und was für die Freiheit der Ökonomie gilt, gilt auch für die Freiheit des Denkens.

Gauck-Vorgänger Wulff setzte Thilo Sarrazin ein trotziges "der Islam gehört zu Deutschland" entgegen und putschte den unliebsam gewordenen Bundesbanker aus dessen Amt. Gauck ergriff Partei für Sarrazin, nicht aus Lust an dessen seltsam völkischen Untertönen, sondern aus zwei Gründen: Ihm, dem Intellektuellen, gefiel Sarrazins intellektuelle Provokation. Der zweite Punkt ist gewichtiger. Für Gauck sind Freiheit und Verantwortung wie Bedingung und Schlussfolgerung daraus. Die Freiheit ist nicht nur dem Individuum gegeben, als solche ist sie eine "Freiheit von", von etwa staatlichem Zwang. Sie ist aber auch eine "Freiheit zu", also etwa eine Freiheit, selbst für seine Integration in die Gesellschaft zu sorgen. Ob nun als Deutscher deutscher oder ausländischer Herkunft. Erst mit ihrer Integration in das Gemeinwesen wird aus einer Person ein Staatsbürger.

Die größte Gefahr für Joachim Gauck ist nicht die Kanzlerin

Gleich zweimal lehnte die Kanzlerin Gauck als Anwärter auf die Präsidentschaft ab. Die Gründe sind klar, sie sind aus Merkels Sicht nur allzu folgerichtig: Der Mann ist ihr zu frei. Vielleicht ist Gauck aber auch dem Volk zu frei. Warum ist Angela Merkel denn so beliebt? Mit der Art ihres Regierens und Repräsentierens liegt sie voll auf Volkes Linie. Ihre Freiheitsreden hat Merkel längst gegen Sicherheits-Reden eingetauscht. Die Ex-Liberale Kanzlerin ist heute für den staatlich garantierten Mindestlohn. So etwas wäre Gauck niemals eingefallen. Die Kanzlerin war gegen diesen Präsidenten, weil er sich zum einen ihrer Steuerung entzieht und zum anderen einen Gegenentwurf setzt zu ihrer Sicherheits-Botschaft ans Volk.

Die größte Gefahr für Joachim Gauck ist nicht die Kanzlerin, sind nicht die Parteien. Eine große Gefahr ist das Amt, das, siehe Johannes Rau, danach trachtet, noch jeden Amtsinhaber gesellschafts-kompatibel zu formen, ihn nicht eckig zu lassen, sondern kieselrund zu schleifen. Hoffen wir also, dass Gauck stärker ist als sein Amt.

Wie kommt das Volk mit einem klar, der nicht der Ihre ist

Die größte Gefahr für Gauck ist aber Gauck. Eine Schwäche hat der Mann: Er ist eitel. Wer eitel ist, ist nicht mehr selbstbestimmt. Wer eitel ist, welch ein schöner Widerspruch zu Gaucks Botschaft, ist unfrei. Er macht sich abhängig vom Applaus anderer. Vielleicht so abhängig, dass er seine Meinung ändert, wenn der Beifall ausbleibt.

Fazit: Unterm Strich ist Gauck eine wunderbares Experiment: Wie die Parteien, die ihn wählten, klar kommen mit einem, der nicht der Ihre ist. Und wie das Volk, das ihn anhimmelt, klar kommt mit einem, der nicht der Ihre ist.