Berlin. . Mit Gauck zieht zum zweiten Mal seit der Wahl Köhlers jemand ins Schloss Bellevue, der der Politik zwar nicht fernsteht, dem etablierten Politikbetrieb aber nie angehört hat. Allerdings spielt er seit den Anfängen des vereinten Deutschland eine unübersehbare öffentliche Rolle. Ein Porträt.

Jetzt also doch. Er hat es bis zuletzt nicht glauben wollen: "Ich stehe hier in meiner Wohnung, und mir wird klar: Das war mein bisheriges Leben. Und nun gibt es noch mal einen neuen Abschnitt." So hat kurz nach seiner Nominierung ein noch immer perplexer Joachim Gauck die Frage nach seinem Befinden beantwortet.

Dabei hat es an immer wieder neuen Abschnitten in diesem Leben auch bisher schon nicht gefehlt. Kindheit in einer in der DDR verfemten Familie. Studium der Theologie und fast zwei Jahrzehnte Seelsorge im Plattenbau. Wortmächtiger Redner in der Rostocker Marienkirche im Wendeherbst 1989. Verwalter der Stasi-Akten im vereinten Deutschland. Schließlich im Sommer 2010 Kandidat der Opposition für das Amt des Bundespräsidenten, damals noch chancenlos.

Seit den Anfängen des vereinten Deutschland eine öffentliche Rolle

Mit Gauck zieht zum zweiten Mal seit der Wahl Horst Köhlers einer ins Schloss Bellevue ein, der der Politik zwar seit langem nicht fernsteht, dem etablierten Politikbetrieb aber nie angehört hat. Während freilich nach Köhlers überraschender Nominierung seine Unterstützer dem Publikum erst erklären mussten, wer das war, hat es in Gaucks Fall ein solches Bedürfnis nie gegeben. Er spielt seit den Anfängen des vereinten Deutschland vor gut zwei Jahrzehnten eine unübersehbare öffentliche Rolle.

Das hatte zunächst auch damit zu tun, dass sich in den ersten Jahren nach der deutschen Einigung mit dem Stasi-Thema, für das Gauck kraft Amtes der Gewährsmann war, gewaltige mediale Resonanzen erzeugen ließen. Es lag aber vor allem daran, dass sich der Behördenchef Gauck nie als Archivar verstanden hat, sondern die Leidenschaft des Pfarrers fürs Predigen nicht lassen konnte. Damals zählte er zu den wenigen ostdeutschen Intellektuellen, die einem gesamtdeutschen Publikum etwas zu sagen hatten, ohne sich aufs Ost-Typische begrenzen zu müssen. Mehr noch: Er hat Sprachgeschichte gemacht. Jemanden "gaucken" hieß eine Zeitlang, ihn auf Stasi-Verstrickungen hin zu durchleuchten.

Verhaftung des Vaters war prägend

Es hat ein frühes prägendes Ereignis in diesem Leben gegeben, die Verhaftung des Vaters, der 1951 wegen angeblicher Spionage in einem sibirischen Lager verschwand und erst vier Jahr später überraschend wieder auftauchte. Die Familie Gauck hat das der DDR nie verziehen. Die Gegnerschaft zu diesem Staat war Lebens- und Erziehungsmaxime. Als eines Tages Joachim aus der Schule ein Ehrenabzeichen für gute Leistungen nach Hause brachte, setzte es eine Ohrfeige: Von Kommunisten nimmt man nichts. Der politische Kompass zeigte nach Westen.

Auch damit hat es wohl zu tun, dass in den achtziger Jahren der Rostocker Pfarrer Gauck wenig anzufangen wusste mit jenen friedensbewegten Dissidenten, die die Utopie eines "dritten Weges" zwischen Marktwirtschaft und Staatssozialismus hegten und von einer basisdemokratisch erneuerten DDR träumten: "Ein dritter Weg, wie soll das gehen?"

Gauck wollte die DDR nicht reformieren, sondern abschaffen. Und einen früheren Mitstreiter, der auch im vereinten Deutschland noch die Fortführung der "friedlichen Revolution" für geboten hielt, beschied er trocken: "Leute mit Meinungen, wie du sie jetzt hast, die gehören auf die Couch." In der alten Bürgerrechtler-Szene verübeln ihm manche das bis heute.

"Ich jedenfalls eigne mich nicht dazu, die Parteien zu verdammen"

Doch auch im Westen zeigen sich kritische Geister gelegentlich irritiert von der Entschiedenheit, mit der Gauck den demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik als die Erfüllung aller politischen Hoffnungen preist. "Ich habe miterlebt, dass Deutsche imstande sind, für Freiheit und Demokratie eine Revolution zu wagen": Das ist im Kern die Botschaft, mit der er seit zwei Jahrzehnten unermüdlich anpredigt gegen die Neigung, die Freiheit gering zu schätzen, wie gegen das, was er für modischen Politikverdruss hält.

Anders als manche Vorgänger wird dieser Bundespräsident nicht der Versuchung erliegen, sich als Volkstribun und Bürgeranwalt gegen den Politikbetrieb in Szene zu setzen. Er sagt es klipp und klar: "Ich jedenfalls eigne mich nicht dazu, die Parteien zu verdammen."

Dass der Freiheitsprediger nach dem Einzug ins Bellevue sein Themenspektrum erweitern müsse, ist ihm empfohlen worden. Gauck bleibt gelassen: "Die Sozialstaatsdebatte", meint er, "und die Gerechtigkeitsdebatte sind in Deutschland nicht unterversorgt."