Essen. . Nordrhein-Westfalen und besonders das Ruhrgebiet drohen nach Erkenntnissen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zum Armenhaus der Republik zu verkommen. Der Verband fürchtet soziale Unruhen.
Bei der Vorstellung des „Armutsberichts 2011“ bezeichnete der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, das Ruhrgebiet als „Problemgebiet Nummer eins“ in Deutschland und warnte vor sozialen Unruhen zwischen Duisburg und Dortmund: Wenn dieser „Kessel mit über fünf Millionen Menschen“ einmal ins Kochen gerate, werde es schwer fallen, ihn wieder abzukühlen.
Im Landesdurchschnitt ist die „Armutsgefährdungsquote“ in NRW zwischen 2005 und 2010 von 14,4 auf 15,4 Prozent gestiegen. Sie liegt damit zwar immer noch deutlich unter den Werten im Osten, wo Mecklenburg-Vorpommern mit 22,4 Prozent den Armutsrekord verzeichnet. Doch während in den neuen Ländern eine allmähliche Besserung zu beobachten ist, verläuft die Entwicklung in NRW genau umgekehrt.
Schneider warf der Bundesregierung vor, das Armutsproblem verschärft zu haben. So habe die Erhöhung des Kinderfreibetrages den Wohlhabenden eine Entlastung von 45 Euro im Monat beschert, während geringer Verdienende mit 20 Euro Kindergelderhöhung abgespeist worden seien. Hartz-IV-Empfänger mit kleinen Kindern hätten durch die Streichung des Elterngeldes eine monatliche Einbuße von 300 Euro zu verkraften. Die Einsparungen an öffentlich geförderter Beschäftigung hätten dazu geführt, das nun 200 000 Menschen wieder auf der Straße stünden: „Wir stehen vor dem Zusammenbruch der Infrastruktur für Langzeitarbeitslose.“ Um Abhilfe zu schaffen, verlangte Schneider einen auf 420 Euro angehobenen Hartz-IV-Satz und Steuererhöhungen für Vermögende und reiche Erben.
Der Sozialstaat-Experte Gerhard Bäcker von der Universität Duisburg-Essen riet davon ab, die Revierstädte über einen Kamm zu scheren. Zu den Problemstädten zählten unter anderem Gelsenkirchen und Dortmund mit besonders vielen Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern. „Mülheim und Bochum stehen gar nicht so schlecht da“, so Bäcker.
Das Ruhrgebiet ist Problemregion
Ein Blick auf die Armuts-Karte scheint zu reichen: Je dunkler die Farbe, desto ärmer die Bürger. Besonders düster sieht es im Osten aus, in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen-Anhalt und in Berlin. Im Süden der Republik, bei den glücklichen Bayern, scheint Armut eher kein Thema zu sein. Und bei uns, im Ruhrgebiet, glänzt es rot und orange: Warnfarben für Bedürftigkeit. Das Ruhrgebiet ist dieser Farbenlehre entsprechend so etwas wie „der Osten im Westen“. Eine „Problemregion“, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband sie nennt.
Im Großen und Ganzen stimmt dieses Bild, und das schon seit vielen Jahren. Im Ruhrgebiet gibt es zum Beispiel erheblich mehr Arbeitslose als anderswo. In Gelsenkirchen lag die Quote zum Jahresende bei 13,9 Prozent (Deutschland: 6,5 Prozent). Im Unterallgäu herrschen diesbezüglich paradiesische Zustände mit einer Arbeitslosenquote von 1,7 Prozent.
Zahl der Hartz-IV-Empfänger dramatisch hoch
Im Revier leben auch „dramatisch viele“ Hartz-IV-Empfänger, sagt der Wohlfahrtsverband. Zu den Unterstützten zählen auch viele Kinder. So waren der Studie zufolge im Juli 2011 in Dortmund und in Duisburg 17,8 Prozent der Einwohner bis 65 Jahren auf Hartz IV angewiesen, in Essen waren es 18,2 Prozent und in Gelsenkirchen sogar 21,6 Prozent. Die relative Armutsquote sei sogar in den letzten sechs Jahren stark gestiegen. In Dortmund zum Beispiel von 18,6 auf 23 Prozent.
Ist das Revier also am Ende? Gehen Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen und Oberhausen vor die Hunde? So einfach, wie uns das die Farbenlehre im Armutsbericht suggeriert, ist das nicht zu beantworten. So ist die Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen im Ruhrgebiet in diesem Jahr im Vergleich zu 2010 und zu 2009 sogar leicht gesunken. Das belegt der Sozialbericht für NRW. Erwerbstätige Hilfebedürftige sind Menschen, die, um leben zu können, komplett oder teilweise auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Es gibt auch weniger Arbeitslose im Revier. Die Quote sank laut Arbeitsagentur von 10,6 Prozent im November 2010 auf 10,2 Prozent im November 2011. Dennoch geht der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt an Langzeitarbeitslosen weitgehend vorbei. Und Langzeitarbeitslose gibt es reichlich zwischen Duisburg und Dortmund.
Ein Haufen Probleme
„Armut zu definieren ist nicht einfach“, weiß Gerhard Bäcker, Sozialstaat-Experte an der Uni Duisburg-Essen. „Es reicht nicht, nur die Zahl der Menschen zu betrachten, die auf Grundsicherung/Hartz IV angewiesen sind. Um Armut zu erfassen, sollte man die gesamte Lebenssituation erfassen, also auch Bildung, Integration und vieles mehr. Dazu gibt es aber bisher keine regionalisierten Daten“, erklärt der Professor.
Grundsätzlich aber ist das harte Urteil aus dem Armutsbericht über das Ruhrgebiet richtig, meint Bäcker. „Im Revier häufen sich die Probleme. Es gibt hohe Arbeitslosenquoten, viele Alleinerziehende, und es handelt sich um eine Region, in der Niedriglöhne verbreitet sind.“
Insgesamt seien die sozialen Unterschiede in NRW eklatant. Die Großstadt-Bevölkerung ist ärmer als die auf dem Land. Und die großen Kommunen des Ruhrgebiets schneiden schlechter ab als Düsseldorf, Bonn oder Münster. Das ist seit Jahren so, und die Lage wird nicht messbar schlimmer. „Es ist auch schwierig, den Ballungsraum Ruhrgebiet mit Mecklenburg-Vorpommern zu vergleichen“, sagt Bäcker. Das relativiert die Farbenlehre im Armuts-Atlas.
Schließlich kann man das Ruhrgebiet auch nicht über einen Kamm scheren. Die Problemkinder heißen Dortmund, Gelsenkirchen, Duisburg, Oberhausen, Essen. „Mülheim und Bochum stehen nicht so schlecht da“, sagt Gerhard Bäcker. In Gelsenkirchen galten im letzten Jahr 21,2 Prozent der Einwohner als erwerbsfähig und bedürftig, in Bochum waren es „nur“ 13 Prozent. In Dortmund gibt es aktuell vier Prozent mehr Arbeitslose als in Mülheim.
Die Vollbeschäftigung im Süden bedroht übrigens auch das Revier. „Viele Fachkräfte aus dem Ruhrgebiet dürften dorthin abwandern“, sagt Bäcker voraus. Das „junge Potenzial“ in unserer Region würde dann noch kleiner. Armes Revier!