Berlin. . Im Fall der Zwickauer Terrorzelle sind die Ermittler einem Zeitungsbericht zufolge auf weiteres möglicherweise brisantes Material gestoßen. Daten, die in Zwickau sichergestellt wurden, sollen Tausende Namen und Adressen enthalten. Auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck soll auf der Liste stehen.
Im Fall der Zwickauer Terrorzelle sind die Ermittler einem Zeitungsbericht zufolge auf weiteres möglicherweise brisantes Material gestoßen. Schriftliche und elektronische Daten, die in Zwickau sichergestellt wurden, sollen Tausende Namen und Adressen enthalten, darunter die weiterer Politiker und Abgeordneter sowie ausländischer Einrichtungen in Deutschland, wie die „Passauer Neue Presse“ am Donnerstag berichtete.
Nach Informationen der "Rhein-Zeitung" sollen auch mehrere Politiker aus Rheinland-Pfalz, darunter Ministerpräsident Kurt Beck (SPD), FDP-Landesvorsitzender Rainer Brüderle und Sabine Bätzing (SPD) auf der Liste stehen.
Die Sicherheitsbehörden sprachen gegenüber der Zeitung allerdings nicht von Todeslisten, sondern von einer Daten-Sammlung, die für die Rechtsextremisten offenbar relevant war. Derzeit werden die Daten demnach zur Auswertung an die Sicherheitsbehörden der Bundesländer verteilt.
Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz dementierte unterdessen Spekulationen um einen ehemaligen Mitarbeiter im Zusammenhang mit der rechtsextremistischen Mordserie. „Es ist unzutreffend, dass der ehemalige Mitarbeiter Quellen, sogenannte V-Männer, im Bereich des Thüringer Heimatschutzes führte“, hieß es in einer in Wiesbaden veröffentlichten Mitteilung der Behörde. Das Onlineportal bild.de hatte zuvor unter Berufung auf parlamentarische Kreise berichtet, der ehemalige Verfassungsschützer habe jahrelang einen V-Mann bei der rechtsextremen Gruppierung geführt.
Verfassungsschutz im Kreuzfeuer
Unterdessen werden Deutschlands Verfassungsschützer wegen der jahrelang unentdeckten Neonazi-Gruppe mit harschen Vorwürfen konfrontiert. Oppositionspolitiker beschuldigen sie, zu lasch gegen Rechtsextremismus vorzugehen. Auch aus den Reihen der Koalition kommt die Forderung, die Rolle des Verfassungsschutzes in dem Fall umfassend aufzuklären. Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) wiederum macht die Politik für Versäumnisse bei der Bekämpfung des rechten Terrors verantwortlich.
SPD, Linke und Grüne attackierten den Verfassungsschutz scharf. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD im Bundestag, Thomas Oppermann, beklagte am Donnerstag „eine systematische Unterschätzung des Rechtsextremismus in Deutschland“. Oppermann, Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, sagte dem Sender NDR 1 Niedersachsen: „Man sieht überall Fahrlässigkeit, man sieht Unentschlossenheit und Pflichtvergessenheit.“
Gefahren des Rechtsradikalismus „teils systematisch“ unterschätzt
Grünen-Rechtsexperte Jerzy Montag warf den Behörden vor, die Gefahren des Rechtsradikalismus „zum Teil nachlässig und teils systematisch“ unterschätzt zu haben. Der Verfassungsschutz sei in Deutschland seit dem Kalten Krieg „historisch auf die sogenannte linke kommunistische Gefahr gepolt“, sagte er im TV-Sender Phoenix.
Die Vorsitzende der Linkspartei, Gesine Lötzsch, sagte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, der Verfassungsschutz „hat unsere Verfassung nicht geschützt, sondern gefährdet“. Verbindungsleute des Verfassungsschutzes hätten die rechtsextreme Szene selbst mit am Leben gehalten und Straftaten begangen.
Strikt gegen die Bezahlung von V-Leuten in Führungspositionen der rechtsextremen NPD mit Steuergeldern hat sich Berlins scheidender Innensenator Ehrhart Körting (SPD) ausgesprochen. „Es ist mit meinem demokratischen Grundverständnis nicht zu vereinbaren, dass ich diejenigen finanziere, die diesen Staat abschaffen wollen“, sagte Körting in der N24-Sendung „Studio Friedman“ am Donnerstag laut Vorabbericht.
Böhmer verlangt schnelle Aufarbeitung
Die stellvertretende FDP-Vorsitzende Birgit Homburger, sagte den „Stuttgarter Nachrichten“ (Freitagausgabe), es sei „unvorstellbar“, dass möglicherweise „V-Leute am Tatort dabei waren“ und nicht verhindert hätten, dass die Morde stattfinden. Es gebe „erheblichen Gesprächs- und Veränderungsbedarf“.
Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), forderte, die Rolle des Verfassungsschutzes in dem Fall zu beleuchten. Eine „schnelle und gründliche Aufarbeitung“ sei nötig.
Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) fordert, im Kampf gegen den Rechtsextremismus bis „an die Grenzen“ der Verfassung zu gehen. „Unser Grundgesetz ist die Reaktion auf den braunen Terror mit dem erklärten Ziel, diesem für immer ein Ende zu setzen“, sagte Merk in München. „Bei der Auslegung der Gesetze müssen endlich die Grundrechte der Opfer und unschuldigen Bürger im Vordergrund stehen - und nicht die Meinungsfreiheit von braunen Straftätern und Propagandisten.“
DPolG-Chef Rainer Wendt sagte hingegen, die Politik trage „mit ihren gesetzlichen Vorgaben und mit dem, was sie uns an personellen Ressourcen zur Verfügung stellt“ die Verantwortung, auch für Defizite bei den Sicherheitsbehörden.
190 BKA-Spezialisten befassen sich mit der NSU
Die Ermittlungsbehörden arbeiten mit zahlreichen Mitarbeitern an einer Aufklärung der Taten, die der Zwickauer Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) zugeschrieben werden. Allein beim Bundeskriminalamt (BKA) sind rund 190 Spezialisten mit dem Fall befasst, wie eine Sprecherin bestätigte. Die NSU soll seit 2000 mindestens zehn Morde, einen Nagelbombenanschlag und Banküberfälle begangen haben.
Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe wies Spekulationen zurück, dass am Tod der in Eisenach aufgefundenen mutmaßlichen NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Dritte beteiligt waren. Der Sprecher sagte der Nachrichtenagentur dapd zudem, dass sich das dritte mutmaßliche NSU-Mitglied, die inhaftierte Beate Zschäpe, „bislang zum Tatvorwurf nicht geäußert hat“.
Möglicherweise wird es für die Opfer der NSU eine zentrale Trauerfeier geben. Dieser Forderung von Migrantenverbänden schloss sich die Integrationsbeauftragte Böhmer an. Linksfraktionschef Gregor Gysi fordert zudem eine Gedenkstunde im Parlament. In einem Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) regt Gysi auch eine von allen Fraktionen getragene Resolution gegen rechten Terror an, wie die „Berliner Zeitung“ (Freitagausgabe) vorab berichtete. (dapd)