Ruhrgebiet. Wie hoch ist die Zahl derer, die von Rechtsradikalen umgebracht wurden, wirklich? Es könnten weitaus mehr sein, als die Bundesregierung offiziell angibt, denn oft wurde der Neonazi-Hintergrund nicht als Tatmotiv eingeräumt. Auch im Ruhrgebiet gibt es mehrere solcher strittigen Fälle.
Ist die Blutspur rechtsextremer Gewalttäter viel länger als bisher angenommen? Nach dem Enttarnen der „Döner-Mörder“, die auch die Heilbronner Polizistin Michelle Kiesewetter umgebracht haben, bricht eine lange schwelende Debatte offen aus. 47 Todesopfer sind zu beklagen, sagt die Bundesregierung. Kritiker aber glauben aber auf Grund von Recherchen der Hamburger „Zeit“ und des Berliner „Tagesspiegel“, dass seit der Wiedervereinigung 1990 mindestens 147 Menschen durch rechtsextreme Gewalt ums Leben kamen. Nur: Die sei nie öffentlich eingeräumt worden.
Es macht stutzig, dass Staatsanwälte und Richter bei vielen Gewalttaten mit tödlichem Ausgang keine rechtsextreme Motivation unterstellt haben, obwohl die gefassten Täter eindeutig der Szene zugehörten oder sich zumindest massiv in der braunen Tonart geäußert haben. Alleine im Ruhrgebiet gibt es mehrere solcher zumindest strittigen Fälle.
Niedergeschlagen mit einem Stahlrohr
Wie das Tötungsdelikt an drei Polizisten im Großraum Dortmund. Am 14. Juni 2000 stoppt Kommissar Thomas G. den Autofahrer Michael B. bei Waltrop. Der 31-jährige, der nicht angeschnallt ist, eröffnet sofort das Feuer. G. stirbt. Der Täter flieht und erschießt auf der Flucht die Dortmunder Polizisten Yvonne H. und Matthias L. Dann richtet er die Waffe gegen sich selbst. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung finden die Fahnder ganze Waffenarsenale, Aufkleber wie „Tötet sie alle“. Es stellt sich heraus, dass B. vorher seinen Job verloren hatte – wegen rechtsradikaler Gesinnung. Schoss er, weil er sich ertappt fühlte? Die Sache ist nie geklärt worden.
Ohne öffentliche Aufklärung bleibt bisher auch der Fall des Bochumer Rentners Anton G. aus dem Jahr 1997. Er wird von mehreren Skinheads mit einem Stahlrohr niedergeschlagen. „Vier Rechtsradikale“ seien es gewesen, kann er noch sagen. Zwei Tage später stirbt Anton G. Vor der Tat waren die Beschuldigten durch „Sieg Heil“-Rufe aufgefallen. Sie werden wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu Freiheitsstrafen von fünf und sechs Jahren verurteilt. Die Anklage glaubt nicht an einen rechtsextremen Hintergrund. Die Angeklagten seien vielmehr alkoholabhängig gewesen.
Am 17. März wird der Frührentner Egon E. in Duisburg von Skins totgetreten. Sie brechen ihm alle Rippen, treten den Kehlkopf ein. Oliver P., der zuvor aus der Bundeswehr wegen rechtsextremer Umtriebe entlassen wurde, muss lebenslang in Haft. Aber auch heute noch erkennen die zuständigen Behörden den Fall nicht als eine politisch motivierte Tat an – wie auch schon beim Dortmunder und beim Bochumer Fall.
Karriere in der Kriminalität
Genau darum geht es. Die drei Vorgänge aus dem Revier stehen für rund 90 weitere Todesfälle, die als „nicht politisch“ gesehen werden, in denen aber zum Beispiel bekannte rechtsextreme Täter Ausländer angegriffen hatten. Selbst der Anschlag 1999 auf ein Asylbewerberheim im nordrhein-westfälischen Borstel mit einem Todesopfer steht nicht auf der Liste rechter Gewalt.
In einem umfangreichen schriftlichen Austausch zwischen der Linksfraktion im Bundestag und der Bundesregierung verteidigt sich das Bundesinnenministerium: Erstens seien die Länder für die Einschätzung als „politisch motiviert“ zuständig, nur in seltenen Fällen das Bundeskriminalamt. Und zweitens: Nazistische Schläger hätten oft „eine stattliche Karriere in der Allgemeinkriminalität“ hinter sich. 50,5 Prozent der rechtsextremen Tatverdächtigen, die 2010 gestellt wurden, haben solche „Vorkenntnisse“ gehabt, heißt es in dem Papier, das der WAZ vorliegt. Es sei schwierig, in solchen Fällen die tatsächliche Motivation zu finden.