Peking. . Der Zusammenprall zweier Hochgeschwindigkeitszüge hat in China eine beispiellose Debatte nicht nur über Korruption und Schlamperei, sondern auch über die hohen Kosten der rasanten Entwicklung ausgelöst.
Als zwei Hochgeschwindigkeitszüge bei Wenzhou aufeinanderprallten, war dies keine gewöhnliche Katastrophe, wie sie allenthalben in der Welt immer wieder passiert. Das Unglück am 23. Juli, das 40 Menschen das Leben kostete, wurde zum Symptom für alles, was in China derzeit schief läuft und was noch schief laufen kann.
Der Unfall hat eine beispiellose Debatte nicht nur über Korruption und Schlamperei, sondern auch über die hohen Kosten der rasanten Entwicklung ausgelöst. In den staatlichen Zeitungen, im zensierten Internet, an Universitäten und unter Freunden fragen sich viele Chinesen, ob der Preis der Modernisierung und des Wahns ihrer Führung, immer schneller und immer besser als andere sein zu müssen, nicht zu hoch ist. Sogar die „Volkszeitung“, das Organ der KP, sprach von „blutbeschmiertem“ Wirtschaftswachstum.
Tiefes Misstrauen gegenüber der Führung
Vor allem tiefes Misstrauen gegen die Führung brach sich Bahn. Kaum hatte Premierminister Wen Jiabao am Unglücksort eine „offene und transparente“ Untersuchung der Ursachen versprochen und erklärt, das Volk müsse „die Wahrheit erfahren“, wiesen die Parteizensoren alle Zeitungen und Rundfunkstationen des Landes an, nur noch „Positives“ über den Fall zu berichten. Zensoren kämmten verstärkt Mikroblogs nach unerwünschten Informationen durch.
Dies ist ein alter Reflex der chinesischen Kommunisten: Schon unter Mao Zedong rechtfertigten sie die Tatsache, dass nur eine kleine Schar Privilegierter Zugang zu wichtigen Informationen erhielt, mit Erklärungen wie: „Die Volksmassen verkraften das nicht“ oder „Das einfache Volk ist zu ungebildet.“
Prinzip der Heimlichtuerei
Unter KP-Chef Hu Jintao, seit 2002 mächtigster Mann Chinas, hat sich am Prinzip der Heimlichtuerei nur wenig geändert - obwohl China nicht mehr ein riesiges Versuchslabor für Maos kommunistische Experimente, sondern eines der mächtigsten Wirtschaftsnationen der Welt ist. Als Rechtfertigung dient das Schlagwort von der „Harmonie“, die der Parteichef zur Regierungsparole erhoben hat.
In diesem Wort liegt Versprechen und Drohung zugleich: Wer die Führung der KP anzweifelt, stellt Harmonie und Stabilität der chinesischen Gesellschaft mit ihren 1, 34 Milliarden Menschen in Frage und muss hart bestraft werden. Deshalb wurde „Harmonie“ unter chinesischen Journalisten, Schriftstellern und Bloggern inzwischen zum Codewort für die Unterdrückung der Wahrheit.
Symbol des neuen Selbstbewusstseins
„Harmonie“ schrieben die Funktionäre in schwarzen Schriftzeichen auch auf die Loks der neuen schlanken Superschnellzüge, die mit über 300 Stundenkilometern durch das Land flitzen. Für die KP wurde das Hochgeschwindigkeitsnetz zum Symbol eines neuen Selbstbewusstseins. Die KP-Spitzenfunktionäre, viele von ihnen Ingenieure, verkündeten, mit reiner Willenskraft Unmögliches möglich machen zu können. Wofür Japaner oder Europäer vierzig Jahren brauchten, schafften die Chinesen in nur vier Jahren, prahlten Eisenbahner.
Diese Hybris und die Bereitschaft, alle Warnungen über mangelnde Sicherheitsvorkehrungen in den Wind zu schlagen, haben vielen Chinesen nun die Augen geöffnet. Niemand glaubt, dass die von Premier Wen versprochene Untersuchungskommission über die wahren Hintergründe des Unglücks informieren wird.
Staat im Staate
Durch das Zugunglück geriet auch der Filz zwischen den gewaltigen chinesischen Staatsunternehmen und den KP-Oligarchen ins Visier: Mit über zwei Millionen Beschäftigten, gewaltigem Bodenbesitz, eigenen Polizisten, Richtern und Gefängnissen, Hochschulen, Fabriken und Baufirmen ist Chinas Bahn ein Staat im Staate.
Mit Krediten der Staatsbanken - aber ohne jeden Zwang, ihre Finanzen zu veröffentlichen - konnten die Funktionäre des Eisenbahnministeriums herrschen wie Fürsten und sich die eigenen Taschen füllen.
Chinesische Journalisten veröffentlichten in den vergangenen Tagen - trotz aller Zensurversuche - Interviews mit Experten, die der Bahn vorwarfen, grünes Licht für die Hochgeschwindigkeitszüge gegeben zu haben, obwohl ihr bekannt war, dass die Signaltechnik nicht dem letzten Stand der Technik entsprach. Die renommierte Finanzzeitschrift Caixin und andere mutige Blätter appellierten mittlerweile an die Regierung, Monopole wie die Eisenbahn zu zerschlagen und ihre Finanzen offenzulegen.
Keine Trennung zwischen Verwaltungs- und Geschäftsinteressen
„Ein Versagen der Signaltechnik hat möglicherweise zu dem Unfall beigetragen“, kommentierte Caixin vergangene Woche, „aber zu den tieferen Ursachen der Tragödie zählt die fehlende Trennung von Verwaltung- und Geschäftsinteressen.“
Die Bahn ist nur einer der Wirtschaftsgiganten Chinas, die sich wie eine Macht im Staate aufführen. Dazu gehören auch die großen Stromkonzerne oder der Erdöl-Gigant CNOOC. Dessen undichte Bohrinseln verschmutzen seit Juni dieses Jahres das Wasser des Gelben Meeres, was die Firma und ihr amerikanischer Partner ConocoPhillips wochenlang vertuscht haben.
Geheimnisversessene Nuklearindustrie
Noch geheimnisversessener - und gefährlicher- ist die chinesische Nuklearindustrie, die eng mit dem Militär verbunden ist. In den kommenden Jahren wollen Chinas Provinzen Dutzende neuer Reaktoren bauen.
Der langjährige Chef des Atomkonzerns CNNC sitzt derweil wegen Korruption im Gefängnis. Auch das ist beunruhigend: Beamte des Umweltministeriums in Peking gestehen ein, nicht genug Personal für die Kontrolle der Reaktoren zu haben.
Die Debatten darüber, wie es in China in den nächsten Jahren weitergehen soll, kommen zu einer heiklen Zeit. In diesen Monaten regelt die KP-Führung ihr Erbe. KP-Chef Hu und Premier Wen werden im Oktober 2012 ihre Partei-Posten aufgeben.
Bürgerrechtler und Journalisten landen im Gefängnis
Bislang wagt niemand ernsthaft vorauszusagen, welchen Weg die Nachfolger einschlagen werden. Premier Wen hatte in jüngster Zeit in Interviews und Artikeln „mehr Demokratie“ und Reformen für China gefordert. Doch seine Worte blieben ungehört - im Gegenteil: Es wanderten in den vergangenen Monaten immer mehr Journalisten und Bürgerrechtler hinter Gitter, manche wurden so zusammengeschlagen, dass sie aus Angst nicht mehr reden mögen.
Mit einer Mischung von strikter Pressezensur und Mao-Nostalgie versucht sich derzeit der ehemalige Handelsminister Bo Xilai zu profilieren: Der KP-Chef der Industriemetropole Chongqing hofft auf einen Aufstieg in den Ständigen Ausschuss des Politbüros.
TV-Sender dürfen nur „rote“ Weisen präsentieren
Bo lässt sich beim Chorsingen revolutionärer Lieder filmen und hat einen der örtlichen Fernsehprogramme angewiesen, keine kommerziellen Unterhaltungsshows mehr zu zeigen, sondern nur noch „rote“ und „patriotische“ Weisen zu präsentieren und Filme zu zeigen, in der die KP-Funktionäre gut sind und die Untertanen dankbar.
Bo gehört - wie Vizepräsident Xi Jinping, der als kommender Staats- und Parteichef ab 2012 gilt - zu jenen Politikern, deren Eltern einst zum engen Kreis der Revolutionäre um Mao Zedong zählten. Diese „Prinzlinge“ fühlen sich als rechtmäßige Erben des Landes.
Nichts weist bislang darauf hin, dass diese neue Generation freiwillig auf ihre Machtvollkommenheit und ihre Privilegien verzichtet, die Rufe nach mehr Offenheit, Pressefreiheit und Transparenz erhört - oder gar ein langsameres Entwicklungsmodell anstrebt.