Essen. . 15. Juni 1961: Zwei Monate vor der Absperrung der Sektorengrenze sprach DDR-Staatschef Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz zum ersten Mal von der Mauer. Der Westen hätte hellhörig werden können.

Annamarie Doherr hatte da noch eine Frage, aber eigentlich war es nur eine Nachfrage, sie selber nannte es Zusatzfrage. Der Staatsratsvorsitzende der DDR hatte eine Pressekonferenz gegeben, es ging um den künftigen Status von West-Berlin, die Kontrolle seiner Verkehrswege, das Schicksal der DDR-Flüchtlinge, die dort saßen. 300 Journalisten im Haus der Ministerien hörten zu oder hörten auch schon nicht mehr zu, als die Frau von der Frankfurter Rundschau ihre Zusatzfrage stellte: „Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“

Die Antwort auf diese Frage ging in die Geschichte ein und prägte das Bild, das wir heute von Walter Ulbricht haben. Trottel oder Schuft? Er musste beides gewesen sein, denn er brachte das Kunststück fertig, sich beim Lügen zu verplappern und damit eine ganz nützliche Provokation zu landen, von der dann aber keiner Notiz nahm.

Ja? Ääh...

„Ich verstehe Ihre Frage so (sagte Ulbricht und strich sich über den Spitzbart), dass es Menschen in Westdeutschland gibt (er schaute nach rechts unten), die wünschen (er lehnte sich aufs Pult und stützte das Kinn bequem auf die Hand), dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Ääh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, und ihre Arbeitskraft voll eingesetzt wird. Niemand (hier hob sich seine Stimme, Ulbricht nickte, dann schüttelte er den Kopf) hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Nur die Spitze der DDR-Regierung und die westlichen Geheimdienste wussten damals: Die Vorbereitungen für einen späteren Mauerbau liefen längst. Schon bei einer Sitzung des Politbüros am 4. Januar hatte Ulbricht eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Vorschläge machen sollte, „wie die Republikflucht entschieden eingedämmt wird“. In der Arbeitsgruppe saßen der ZK-Sekretär für Sicherheit Erich Honecker, Innenminister Karl Maron und der Minister für Staatssicherheit – das war damals schon Erich Mielke. Außerdem gab es noch eine weitere Runde, die sich mit der „Republikflucht“ befasste, und in ihr saß bezeichnender Weise der Bauminister.

Die Verbündeten sind entsetzt über die Pläne

In welche Richtung diese Männer diskutierten, das ist kaum dokumentiert. Allerdings berichtete der tschechoslowakische Vizeminister Jan Sejna später von einem Regierungstreffen des Warschauer Paktes, das Ende März 1961 stattfand, also zweieinhalb Monate bevor Ulbricht in Ost-Berlin auf Annamarie Doherrs Zusatzfrage antwortete. Damals im März, so Sejna, habe Ulbricht eine „Stacheldrahtbarriere quer durch Berlin“ vorgeschlagen, die Vertreter der osteuropäischen Regierungen seien „entsetzt“ gewesen.

Ulbricht stand 1961 unter Druck und wollte Druck ausüben. In nur zehn Jahren hatten zwei Millionen Menschen die DDR verlassen, das ging ganz einfach über die offene Sektorengrenze in Berlin. 50 000 Arbeiter aus Ost-Berlin arbeiteten ständig im Westteil der Stadt, wo sie mehr verdienen und mehr kaufen konnten. Kinder aus Ost-Berlin gingen im Westen in die Schule! West-Berlin war also in der Tat eine Wunde, über die die DDR langsam ausblutete, daher trieb Ulbricht den Sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow immer wieder an, mit der DDR einen Friedensvertrag zu unterzeichnen und mit den Westmächten über einen Rückzug aus West-Berlin zu verhandeln. Weil sich das aber fürchterlich hinzog, dachte Ulbricht wohl seit Anfang des Jahres über eine bewusste Eskalation des Berlin-Problems nach.

Stacheldraht, Pflastersteine und erste kleine Mauern

Knapp zwei Monate nach Ulbrichts Pressekonferenz sollten DDR-Truppen mit der Abriegelung der Grenze beginnen, rollten Stacheldraht aus, häuften aufgerissenes Straßenpflaster zu kleinen Wällen auf, mauerten Hauseingänge und Fenster zu.

Dass es so weit kommen würde, und dass dann wirklich eine Mauer gebaut werden würde, das konnte sich im Juni 1961 allerdings kaum einer vorstellen, auch Annamarie Doherr nicht. Mit ihrer Zusatzfrage hatte sie Ulbricht ein sensationelles Zitat entlockt. Dann ging sie in ihr Büro und schrieb einen Artikel, in dem es um den künftigen Status von West-Berlin ging, die Kontrolle seiner Verkehrswege, das Schicksal der DDR-Flüchtlinge, die dort saßen. Nur von einer Mauer stand dort nichts.