Essen. . Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung von Sexualstraftätern kommt bei den Fachleuten unterschiedlich an. 116 Sicherungsverwahrte müssen bis 2013 neu begutachtet und vermutlich zu einem Großteil freigelassen werden.
Michael Skirl, der Chef der Justizvollzugsanstalt Werl, gilt seit langem als einer der Experten in Sachen Sicherungsverwahrung. Erst kürzlich hatte der wortgewaltige 60-Jährige sein Gefängnis für die Fernsehkameras geöffnet, hatte gemeinsam mit ARD-Moderatorin Sandra Maischberger, seinem Gefängnisarzt Joe Bausch und Sicherungsverwahrten inmitten von Gefängnisfluren und Stahltüren diskutiert.
Sein Haus gilt als vorbildlich, als eines, das bereits einige Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes erfüllt. Doch auch Skirl weiß: „Nach diesem Urteil brauchen wir erheblich mehr Personal, mehr Sozialarbeiter, mehr Psychologen“.
„Wegsperren, am besten für immer!“
Tatsächlich hat das Urteil des Verfassungsgerichts selbst für Fachleute überraschend grundlegend die bisherige Praxis der Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig erklärt. Auch gestern noch wurde es unter Juristen heftig diskutiert. Denn die hatten in der Vergangenheit höchst unterschiedlich geurteilt. Hat etwa das Oberlandesgericht in Hamm im Sinne der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schon elf Sicherungsverwahrte auf freien Fuß gesetzt, behandelt das Kölner Gericht ähnliche Anträge von Betroffenen äußerst restriktiv. Und die Allgemeinheit folgte ohnehin eher dem Alt-Kanzler Schröder: „Wegsperren, am besten für immer!“
Nach dem Urteil von Mittwoch müssen jedoch allein in Nordrhein-Westfalen 116 Sicherungsverwahrte bis Mai 2013 neu begutachtet und vermutlich zu einem Großteil freigelassen werden. Schon vor eineinhalb Jahren hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die in Deutschland geltende Praxis als „menschenunwürdig“ verurteilt. „Seitdem wurden in NRW 18 Schwerstverbrecher freigelassen, sechs von ihnen sind als gefährlich eingestuft“, erklärt Ulrich Hermanski vom Justizministerium.
Peter B. hofft auf Entlassung
Einer, der nun auf seine baldige Freilassung hofft, ist der 53-jährige Peter B., ein Sexualverbrecher, der seine kriminelle Karriere bereits als Jugendlicher begann. Als sadistischer Mehrfachtäter wurde er zu neun Jahren Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung verurteilt. Wegen der bis 1998 geltenden Höchstgrenze von zehn Jahren Sicherungsverwahrung hätte er schon im Oktober 2009 entlassen werden müssen. Doch das Oberlandesgericht Köln verhinderte dies. So wurde Peter B. zu einem von vier Klägern beim Bundesverfassungsgericht.
„Ich habe ihn noch nicht sprechen können, werde ihn aber morgen in der JVA Aachen besuchen“, erklärte dessen Anwältin Maria Bürger-Frings gestern. Sie erwarte, dass Peter B. nun binnen eines Jahres neu begutachtet werden müsse und eine Chance habe, freigelassen zu werden. Gerade als Frau könne sie die Ängste in der Bevölkerung vor der Freilassung solcher Schwerverbrecher durchaus verstehen, doch der „beste Opferschutz ist eine Therapie bereits während der Haft“. In Aachen gäbe es lediglich einen hauptamtlichen Psychologen und eine lange Warteliste für externe Therapeuten.
„Kein Puderzucker“
Genau das soll sich nach Vorstellung des Verfassungsgerichts ändern. Sicherungsverwahrung soll sich künftig deutlich von Haft unterscheiden, durch persönlich eingerichtete Zimmer statt Zellen etwa, durch Ausgang und eben Therapie. „Therapie ist alles andere als Puderzucker“, sagt Michael Skirl, der JVA-Chef, „das ist Knochenarbeit. Spätestens bei der vierten Sitzung stellt sich bei vielen der Männer heraus, dass sie selbst als Kind missbraucht wurden, in der Familie oder im Heim“.
Für mehr Therapie hatte sich Frank Richter von der Gewerkschaft der Polizei in NRW schon früh eingesetzt. Nun fürchtet er die Arbeitsbelastung, die auf die Polizei durch die Freilassung der Schwerverbrecher zukommt. Richter: „Da müssen Ressourcen umgeschichtet werden. Der Bürger wird es bei der Bekämpfung der Alltagskriminalität zu spüren bekommen“.