Ankara. .

Tayyip Erdogan in seiner Paraderolle: als Ministerpräsident aller Türken. Selbst wenn sie schon in der zweiten Generation die deutsche Staatsangehörigkeit be­sitzen. So trat Erdogan in Düsseldorf auf. Er sagte dort Ja zur Integration. Aber der Premier bewies einmal mehr eine se­lektive Wahrnehmung der Wirklichkeit. Niemand dürfe die Rechte von Minderheiten ignorieren, mahnte Erdogan. Die Kurden in der Türkei werden fragen, warum das nicht für sie gilt. Jeder habe das Recht, seinen Glauben auszuleben, hieß es. Den Christen in der Türkei wird das allerdings nicht zugestanden.

Druck auf die EU

Erdogan glaubt, sich diese Widersprüche leisten zu können. Die Türkei tritt zunehmend selbstsicher auf. Das erlebt man gerade in Brüssel. In langwierigen Gesprächen hatten EU-Diplomaten mit An­kara eine Vereinbarung ausgehandelt, mit der sich die Türkei zur Rücknahme von illegalen Einwanderern verpflichtet, die über türkisches Territorium in die EU gelangen. Doch nun erklärt Ankara, man werde das Abkommen weder unterschreiben, noch ratifizieren oder anwenden. Es sei denn, die EU hebe die Visumspflicht für Türken auf.

EU-Innenkommissarin Ce­cilia Malmström muss sich düpiert vorkommen. Statt den Strom der Flüchtlinge zu stoppen, öffnet die Türkei ihre Grenzen: seit sie Syrer, Jordanier, Marokkaner und Algerier ohne Visum einreisen lässt, kommen Tag für Tag Hunderte „Illegale“ über die Türkei nach Griechenland. So macht An­kara in der Visumsfrage Druck auf die EU.

Wirtschaftlich ein Riese

Die Türkei kuscht nicht mehr vor den Europäern, sie trumpft auf. Das neue Selbstbewusstsein stützt sich auf Wirtschaftskraft. Stand die Türkei noch vor einem Jahrzehnt während ihrer Finanz- und Bankenkrise am Abgrund des Staatsbankrotts, liegt sie heute in der Rangliste der größten Wirtschaftsnationen auf Platz 17. In der EU wäre sie sogar, wenn sie dazugehörte, die Nummer sieben. Seit Erdogans Amtsantritt vor acht Jahren hat sich das statistische Pro-Kopf-Einkommen verdreifacht.

Die Türkei beginnt, in die Rolle einer Regionalmacht hin­einzuwachsen. Zwar schlägt den Türken als Nachfahren der Osmanen, die jahrhundertelang die Region be­herrschten, in der arabischen Welt nicht nur Sympathie entgegen. Trotzdem sehen viele Araber in der Türkei ein Vorbild. Wegen ihres wirtschaftlichen Aufstiegs, aber mehr noch, weil sie demonstriert, dass Islam und Demokratie vereinbar sind, auch wenn die türkische Demokratie aus europäischer Sicht unvollkommen sein mag.

„Kein demütiger Bittsteller mehr“

Während die Türkei nach Osten blickt, fragen viele, was das für die europäische Perspektive des Landes bedeutet. Erdogan und sein Außenminister Ahmet Davutoglu werden zwar nicht müde zu versichern, der EU-Beitritt bleibe eine Priorität. Aber das klingt eher wie eine Pflichtübung. Seit die Türkei vor einem halben Jahrhundert erstmals an die Tür Europas klopfte, hat sich das Land verändert. Man stehe heute „nicht mehr als demütiger Bittsteller“ vor der Tür, sagte Erdogan kürzlich. Innerlich verabschieden sich immer mehr Türken von Europa: nur noch 38 Prozent sind für den EU-Beitritt, gegenüber 66 Prozent vor drei Jahren.

Erdogans Auftritt in Düsseldorf zeigte auch: seine Türkei bleibt ein Land der Widersprüche. Sie schielt nach Westen, besinnt sich aber zugleich auf die konservativen Werte des Islam; sie bekennt sich zur europäischen Integration, hängt aber in ihrer Außenpolitik neo-osmanischen Großmachtträumen nach. Erdogans Türkei geht ihren eigenen Weg. Es sieht nicht so aus, als führe er in die EU.