Berlin. Die Bundestagswahl steht kurz bevor und Sie sind noch unsicher? Lesen Sie hier, welche Fehler Sie beim taktischen Wählen vermeiden sollten.
Einmal CDU, immer CDU? SPD – komme, was wolle? Wer fest zu einer Partei steht, hat seine Wahlentscheidung vermutlich getroffen. Manche Wählerinnen und Wähler stellen sich aber auch die Frage, ob sie auf Grundlage der letzten Umfragen am Sonntag taktisch wählen sollen. Von der Koalition bis zum Wahlkreis kann es Gründe geben, seine beiden Stimmen bei der Bundestagswahl gezielt einzusetzen.
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Da wäre die Kanzlerfrage: Wer sich zum Beispiel nicht unbedingt zu den Unionswählern zählt, aber Friedrich Merz für den Richtigen hält, sollte ihn mit einer Stimme für CDU oder CSU unterstützen. Oder die Koalitionsfrage: Wer einen Wahlsieg von CDU/CSU erwartet, den Unionsparteien aber eine bestimme Kraft an die Seite stellen will, könnte entsprechend wählen.
Noch ist unklar, welche Parteien überhaupt im nächsten Bundestag sitzen
Dabei gilt es zu bedenken: Eine Koalition mit der AfD hat Merz ausgeschlossen. Das kann wichtig sein für Wähler, die sich eine harte Linie in der Migrationspolitik wünschen. Eine Stimme für die Rechtsaußenpartei und ein vergleichsweise schlechtes Unionsergebnis könnte den Konservativen eher schwächen, wenn es für ihn nach der Wahl darum geht, in einer Koalition mit SPD oder Grünen eine striktere Linie in Migrationsfragen durchzusetzen.
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
Ein anderer Beweggrund für eine taktische Stimmabgabe kann der Wunsch nach möglichst stabilen Verhältnissen im Parlament sein. Mit CDU/CSU, AfD, SPD, Grünen, der Linken, FDP und BSW könnten bis zu sieben Fraktionen im nächsten Bundestag sitzen – oder auch nur vier, wenn die Linke, FDP und BSW allesamt an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern.
Die Wahlrechtsreform hat das taktische Wählen verkompliziert
Je größer die Zahl der Fraktionen im Parlament, desto unwahrscheinlicher ist es, dass eine auch politisch denkbare Zweierkoalition rechnerisch möglich ist. Andererseits: Je kleiner die Zahl der Fraktionen im Parlament, desto größer das Gewicht der AfD. Eine Befürchtung der anderen Parteien: AfD und BSW erzielen so starke Ergebnisse, dass sie zusammen ein Drittel der Stimmen im Bundestag stellen und eine Sperrminorität bekommen. Dann könnten sie Grundgesetzänderungen blockieren.
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Doch das Taktieren auf dem Stimmzettel ist komplexer geworden. Eine Wahlrechtsreform hat 2023 der Erststimme, mit der bisher ein Direktkandidat aus jedem Wahlkreis ins Parlament entsandt wurde, Gewicht entzogen. Das Ziel: Der Bundestag soll sich nicht weiter aufblähen. „Die Wahlkreissieger kommen nur ins Parlament, wenn die Partei auch genug Zweitstimmen erhalten hat“, erklärt Thomas Gschwend, Politikwissenschaftler der Universität Mannheim.
Wahlkreise könnten ohne Vertreter im Parlament darstehen
Hat eine Partei nicht ausreichend Zweitstimmen, müssen die Wahlkreisgewinner, die prozentual am schlechtesten abgeschnitten haben, auf ihr Direktmandat verzichten. Gschwend rechnet mit rund 20 solcher Fälle bei der anstehenden Wahl. „Wenn aus einem solchen Wahlkreis auch kein Abgeordneter über die Landesliste in den Bundestag einzieht, kann das dazu führen, dass einzelne Wahlkreise nicht im Bundestag repräsentiert werden.“
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Gschwend betreibt gemeinsam mit weiteren Wahlforschern die Website zweitstimme.org, die kurz vor der Wahl hoch frequentiert ist. „Bei uns brechen aktuell fast die Server zusammen“, berichtet der Politikwissenschaftler. Auf einer Deutschlandkarte sind die Wahlkreise in den Parteifarben der prognostizierten Wahlkreissieger, inklusive Gewinnchance und den Prozentwerten der Verfolger zu sehen. Wie das geht? „Unser statistisches Modell funktioniert so, dass wir den aktuellen Bundestrend auf die Wahlkreise herunterbrechen und historische Daten wie den letzten Wahlkreissieger einfließen lassen.“ Jedoch rät das Team davon ab, wahlrelevante Entscheidungen einzig auf Basis ihrer Vorhersage zu treffen.
Das erklärte Ziel der Linken: drei Direktmandate
Ursprünglich wollten Gschwend und sein Team, die ähnliche Berechnungen schon bei den vergangenen beiden Wahlen durchgeführt haben, auch Befragungen durchführen. Der vorgezogene Wahltermin verhinderte das. „Dennoch können wir in etwa 80 Prozent der Wahlkreise den Wahlkreissieger zuverlässig voraussagen“, so Gschwend.

Die Linke dürfte Gschwends Karte besonders aufmerksam beobachten. Nach der Abspaltung von Sahra Wagenknecht und ihrem BSW lag die Partei am Boden und setzte alles auf die Grundmandatsklausel. „Die besagt, dass eine Partei, die mindestens drei Direktmandate erreicht, mit ihrer gesamten Sitzzahl gemäß den Zweitstimmen in den Bundestag einzieht“, erklärt Gschwend. Für die Linke sollten das die drei „Silberlocken“ richten: Bodo Ramelow, Gregor Gysi und Dietmar Bartsch. Doch inzwischen ist die Partei wieder im Aufschwung, die großen Umfrageinstitute prognostizieren den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde.
Ergibt es jetzt, wo die Erststimme so sehr an Bedeutung verloren hat, also überhaupt noch Sinn, taktisch zu wählen, beziehungsweise die Stimmen zwischen zwei Parteien aufzuteilen? Ja, sagt Gschwend, in zwei Fällen: „Zum einen, wenn es mir wichtig ist, dass eine Partei ins Parlament kommt, die voraussichtlich die drei Direktmandate für die Grundmandatsklausel braucht.“
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Zum anderen, so der Politikwissenschaftler, „wenn ich davon ausgehen muss, dass die Partei meines favorisierten Direktkandidaten nicht genug Stimmen bekommt, um alle Wahlkreissieger ins Parlament zu schicken und das Direktmandat bei mir sehr umkämpft ist“. Wähler, die dann sicher gehen wollen, dass ihr Wahlkreis im Bundestag repräsentiert wird, könnten überlegen, einen anderen Direktkandidaten zu wählen. Laut Gschwend handelt es sich hierbei allerdings um Einzelfälle. Wer taktisch wählen will, muss sich also überlegen, wen er mit seiner Entscheidung am meisten unterstützt: einen Kanzlerkandidaten, eine Partei oder den eigenen Wahlkreis.