Tschassiw Jar. Die ukrainischen Soldaten warten seit mehr als einer Woche auf den Befehl zu schießen. Sie wirken entspannt. Dann meldet sich das Funkgerät.
Stepan ist müde. Unter seinen Augen haben sich schwarze Ringe eingegraben. Er fährt sich durchs Gesicht, reibt sich die Schläfe. „Ich weiß nicht, wann das endet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es überhaupt irgendwann mal endet.“ Drei Jahre kämpft er jetzt, so wie die meisten Männer in seiner Einheit. „Wir sind alle erschöpft.“ Kurz darauf lenkt er das Feuer seiner Artillerie-Batterie auf einen Trupp russischer Soldaten, die in einer Baumreihe in den Feldern bei Tschassiw Jar vorstoßen. Der erste Schuss landet im Feld. Er legt Taras die Hand auf die Schulter. „50 Meter weiter links.“ Der zweite Schuss ist ein Volltreffer. Den Tod zu bringen, ist Stepans Alltag. „Wir machen unseren Job.“
Drei Jahre ist der Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine her. Der große Krieg, eine Tagesreise entfernt von Deutschland, geht bald ins vierte Jahr. Er hat die ukrainische Gesellschaft ausgelaugt. Ein rasches Ende ist nicht in Sicht, auch wenn es scheint, als könnten in diesem Jahr Verhandlungen über einen Waffenstillstand beginnen. Als die Invasion begann, standen die Menschen in der Ukraine zusammen. Zehntausende meldeten sich freiwillig zum Dienst in der Armee. Die Unterstützung für die Streitkräfte war enorm. Es scheint aber, als klafften jetzt zunehmend Risse zwischen Gesellschaft und Militär auf. So empfinden es jedenfalls manche Soldaten, die noch immer an der Front kämpfen.
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An diesem eiskalten Februartag wölbt sich ein bleierner Winterhimmel über der kargen Landschaft östlich von Druschiwka. Je näher die Front kommt, desto lauter wird das ständige Wummern der Geschütze. In einem der vielen zerstörten und menschenleeren Dörfer hat eine Artillerie-Einheit der 24. Mechanisierten Brigade Position bezogen. Vor dem Eingang eines Bauernhauses kauert eine zerzauste Katze. Drinnen sitzen Stepan und seine Männer. Ein Holzofen gibt Wärme, auf Feldbetten liegen Schlafsäcke, an den Wänden lehnen Sturmgewehre.
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Der Krieg im Land ist im Westen anders spürbar als im Osten der Ukraine
Taras, 37, bringt einen Tee. Die Männer fragen, was die Menschen in Deutschland über den Krieg denken, ob sie Putin glauben, dass er in der Ukraine gegen Nazis kämpft. Ob die Deutschen die Ukraine noch unterstützen. Sie erzählen davon, wie selten sie ihre Kinder sehen, davon, dass die Scheidungsraten steigen. Davon, dass es sie ärgert, dass fern der Front für bei Luftangriffen zerstörte Cafés Geld gesammelt wird, aber immer weniger für die Soldaten.
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Plötzlich herrscht Alarm. Es sind Gleitbomben im Anflug. Die Russen setzen diese Bomben seit etwa einem Jahr in Massen ein, sie können über eine Distanz von bis zu siebzig Kilometer ins Ziel gesteuert werden, sind tonnenschwer und richten Verheerungen an. Sie haben den Krieg noch gefährlicher gemacht. Eine Minute später kracht es laut. Die Männer wirken entspannt. Sie waren nicht das Ziel. „Ein anderes Dorf wird ausradiert“, sagt Stepan lakonisch. Er ist der kommandierende Offizier, 32 Jahre alt, und wie die meisten hier hat er sich zu Beginn der Invasion freiwillig gemeldet.
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Sie alle hier stammen aus dem Westen der Ukraine. Dort ist das Grauen der Front weit entfernt. Es gellt zwar immer wieder Luftalarm, manchmal schlagen Raketen in den Städten ein. Aber der Krieg ist nicht so greifbar wie im Osten. Das ist mit ein Grund dafür, dass die Kluft zwischen Militär und Zivilbevölkerung wächst, glaubt Taras. Er hat vor der Invasion Veteranen betreut.
Alltag der Soldaten an der ukrainischen Front: „Im Westen nichts Neues“
Taras denkt viel nach über das Verhältnis zwischen den Soldaten und den Zivilisten. „Zu Beginn des Krieges bewunderten die Menschen das Militär, weil sie Angst hatten, und die Soldaten waren ihre Beschützer.“ Das hat sich geändert. „Mit der Zeit, wenn sie sich nicht mehr direkt bedroht fühlen, weil sie den Krieg als etwas weit Entferntes im Osten wahrnehmen, werden sie des Militärs überdrüssig.“ Es ist Gefühl der Entfremdung, dass sie alle hier empfinden.
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Tatsächlich finden sich immer weniger Menschen, die bereit sind, sich freiwillig zur Verteidigung des Landes zu melden. Rekrutierungsoffiziere werden immer mehr als lästig oder als Bedrohung wahrgenommen. Ein Pazifist ist Taras nicht. Aber er liebt Erich Maria Remarque. „Im Westen nichts Neues“ beschreibe sehr gut den Alltag der Soldaten an der Front. Im Osten kaum Neues, seit mehr als einem Jahr. Die russische Kriegswalze schiebt sich im Donbass unerbittlich Kilometer für Kilometer vor. Das geschieht aber langsam.
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Tausende ukrainische Soldaten sind im vergangenen Jahr bei der Verteidigung von Kleinstädten wie Awdijiwka, Kurachowe, Torezk, Tschassiw Jar, Wuledar oder Wowtschansk gefallen. Den Russen sind trotz ihrer Übermacht keine operativen Durchbrüche gelungen. Das ist ein militärischer Erfolg. Aber zäher Abwehrkampf begeistert nicht wie die stürmische Befreiung großer besetzter Gebiete. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum die Zivilisten im Westen des Landes den Krieg verdrängen.
Andrji und seine Männer warten seit über einer Woche auf den Befehl zu schießen
Auf einem Monitor, vor dem Taras sitzt, flimmern Videos. Eine Drohne fliegt langsam über das, was einmal die 13.000-Einwohner-Stadt Tschassiw Jar war. Wohnblocks liegen in Trümmern, Häuser sind eingeebnet, auf den Ruinen liegt Schnee. An einer Allee ragen verkohlte Baumstämme in den grauen Himmel. Der Pilot zoomt auf die Fensterhöhlen eines zerstörten Hauses. Keine Bewegung. Kein russischer Soldat. Kein Ziel für die Artilleristen. Dann entdeckt Stepan auf einem anderen Video in einer Baumreihe einen russischen Infanterietrupp und gibt den Feuerbefehl.
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Die tödlichen Schüsse feuern wenige Kilometer entfernt Andrji und seine Männer ab. Sie sind die Besatzung einer Gvozdika-Haubitze. Das stählerne Ungetüm steht in den Ruinen eines Hauses, geschützt von einem Tarnnetz und Gestrüpp. Würden sie von russischen Aufklärungsdrohnen entdeckt, würden sie hier selbst zum Ziel. Die drei Soldaten leben in einem Verschlag daneben. Zehn Quadratmeter, an den Wänden Isoliermatten gegen die Kälte. Bilder, die Kinder gemalt haben. Hier warten sie seit über einer Woche Tag und Nacht auf den Befehl zu schießen. Auch sie wirken entspannt. Bis das Funkgerät quäkt.
Dann muss es schnell gehen. Sie hechten aus dem Keller heraus, Dmytro und Yaroslaw zerren routiniert das tarnende Gestrüpp vom Kanonenrohr, verschwinden in dem gepanzerten Fahrzeug, richten das Rohr aus. Andrij wartet auf den Befehl. „Feuer!“ Ein ohrenbetäubend lauter Knall, Rauchschwaden steigen auf. Es riecht nach Schießpulver. Die Männer rauchen eine Zigarette.
Andrji über den Ukraine-Krieg: „Er hat uns in sich hineingezogen“
Andrij, 46, trägt einen langen grauen Bart. Er hat ihn sich wachsen lassen, als die Invasion begann und er sich freiwillig meldete. „Opa“ nennen sie ihn, so ist sein Funkname. Er ist Großvater, seine Enkelin ist eineinhalb Jahre alt. Als er das Foto der Kleinen auf seinem Mobiltelefon zeigt, lächelt er. In den vergangenen drei Jahren war er insgesamt 90 Tage auf Heimaturlaub.
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Manchmal wacht er nachts zu Hause auf, weil er meint, einen Funkspruch gehört zu haben. Er springt dann auf, bereit, zu seiner Gvozdika-Haubitze zu eilen und einen Schuss auf den Feind abzufeuern. Er sagt: „Der Krieg hat uns in sich hineingezogen.“
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700 Kilometer weiter westlich in der Hauptstadt Kiew geht das Leben seinen Gang. Die Restaurants sind voll, in den Bars wird gefeiert. Auf dem Maidan, dem zentralen Platz der Hauptstadt, ist in den vergangenen Jahren ein großes Fahnenmeer gewachsen. Jede Fahne erinnert an einen der Toten des Krieges. Zivilisten hasten geschäftig vorbei. Ein Soldat geht allein durch die Reihen, in sich gekehrt. Er bleibt stehen, schaut auf eines der Bilder der Gefallen und wischt sich Tränen aus den Augen.
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