Kiew. Präsident Selenskyj schwärmt von „Paljaynzja“, der neuen Wunderwaffe der ukrainischen Armee – und nimmt bereits erste Ziele im Visier.

Kiew hat zu Wochenbeginn eine weitere schlaflose Nacht hinter sich. Wie schon in den vorgangegangenen Nächten feuerte Russland erneut „mit ballistischen Raketen, Marschflugkörpern, Lenkraketen und Drohnen vom Typ Schahed“ auf die Regionen Kiew, Sumy und Charkiw. Auch wenn die Flugabwehr zumindest über der Hauptstadt funktioniert, gibt es immer wieder Verletzte durch die herabfallenden Trümmer von abgeschossenen Raketen. In Sumy wird unter anderem ein Waisenhaus getroffen – unter den 13 Verletzten sind auch Kinder. Bei den Menschen liegen die Nerven blank.

Schon seit Ende März bombarbiert die russische Luftwaffe wieder gezielt die ukrainische Energieinfrastruktur – auch im Sommer hat das dramatische Folgen für die Stromversorgung. Während der besonders heißen Tage im Juli sorgte die verstärkte Nutzung von Klimaanlagen dafür, dass die Kiewer den halben Tag ohne Strom verbringen mussten. Den bislang massivsten Angriff flog Russland aber am 26. August, in den darauffolgenden Tagen kam es immer wieder zu Beschuss. Nun ist nicht nur in Kiew, sondern auch in vielen anderen Ecken des Landes eine Frage des Glücks, ob es Energie gibt oder nicht.

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Dass die ukrainische Armee nun ihrerseits mit Drohnenangriffen auf russische Energieinfrastruktur antwortete, ist für Präsident Wolodymyr Selenskyj eine natürliche Folge. „Der terroristische Staat muss spüren, wie es ist, Krieg zu führen“, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft. Die Planungsstäbe in Kiew arbeiteten daran, möglichst viele russische Militäreinrichtungen, russische Logistik und kritische Teile ihrer Militärwirtschaft in Reichweite der ukrainischen Waffen zu bringen. Er wiederholte seinen Appell an den Westen, auch schwere Waffen gegen Ziele auf russischem Staatsgebiet einsetzen zu dürfen.

Paljaynzja ist die neue Wunderwaffe der ukrainischen Armee

Zwar hatte die Ukraine im Mai als Reaktion auf die russische Offensive in der Region Charkiw die Erlaubnis erhalten, westliche Waffen in Grenzbezirken zum ukrainischen Territorium einzusetzen – doch grünes Licht für den Einsatz von Marschflugkörpern der Klasse ATACMS oder Storm Shadow gab es bislang nicht. Und so ist das angegriffene Land darauf angewiesen, eigene Waffen zu entwickeln, um die Risiken für Kiew möglichst zu minimieren. Am ukrainischen Unabhähigkeitstag schwärmte Selenskyj nun von einer neuen Wunderwaffe, die als Hybrid zwischen Rakete und Drohne vorgestellt wurde.

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Paljaynzja soll sie heißen. Der Name steht eigentlich für das traditionalle ukrainische Brot, hat aber auch eine symbolische Bedeutung. Denn die russischen Propagandisten waren zu Kriegsbeginn 2022 nicht in der Lage, ihn korrekt auszusprechen. Zu schwierig war die Phonetik. Paljanyzja wurde zu einem beliebten Meme, das sich bis heute hält. „Das Ganze ist aber eigentlich alles andere als lustig“, betonte Selenskyj auf einer Pressekonferenz vergangene Woche, als er auf die Waffe angesprochen wurde.

Auf dem von Russland besetzten Gebiet in der Ukraine soll Paljaynzja bereits erfolgreich eingesetzt worden sein. Die Entwicklung dauerte nur anderthalb Jahre. Die Waffe ist mit einem Turbostahltriebwerk ausgestattet und wird vom Boden aus gestartet. Nach ukrainischen Angaben kann die Waffe rund 20 Flugplätze auf international anerkanntem russischen Gebiet erreichen – darunter auch die Flugplätze Engels-2 und Sawaslejka, von denen aus die Ukraine besonders oft angegriffen wird.

Reichweite der Waffe soll etwa 600 bis 750 Kilometer betragen

Was die technischen Details betrifft, hält sich die Regierung aus Sicherheitsgründen zwar bedeckt, es ist aber davon auszugehen, dass die Reichweite von Paljanyzja mindestens 600 bis 750 Kilometer beträgt. „Weil der Nasenteil oval und nicht rund ist, dürfte Paljanyzja deutlich schneller sein als iranische Kampfdrohnen der Klasse Schahed“, erklärte der ukrainische Luftfahrtexperte Walerij Romanenko. Die Geschwindigkeit von Paljanyzja wird auf etwa 400 bis 450 km/h geschätzt – womöglich auch deutlich mehr.

Ein Marschflugkörper des Typs ATACMS wird von einem Raketenwerfer abgefeuert. Die Ukraine bittet seit langem um die Erlaubnis, sie auch in Russland einsetzen zu dürfen.
Ein Marschflugkörper des Typs ATACMS wird von einem Raketenwerfer abgefeuert. Die Ukraine bittet seit langem um die Erlaubnis, sie auch in Russland einsetzen zu dürfen. © picture alliance / Photoshot | Photoshot

Oleh Katrow, Chefredakteur des ukrainischen Branchenmediums Defence Express, glaubt, dass die ukrainische Armee in der Lage sein könnte, mit Paljanyzja mehrere Verteidigungslinien der russischen Flugabwehr zu durchbrechen, den Russen weniger Zeit für die Gegenreaktion zu gewähren und mit höherer Schlagzahl größere Schäden an russischen Flugpätzen zu hinterlassen – eine Ersatzlösung, so lange der Westen den Einsatz von Langstreckenwaffen auf russischem Territorium untersagt.

„Paljanyzja erhöht die Möglichkeiten der ukrainischen Armee, die russische Luftwaffe direkt auf den russischen Flugplätzen zu treffen“, glaubt Romanenko. Ihm zufolge wurde ein guter Weg gefunden, um Effektivität und einen vergleichweise geringen Produktionspreis miteinander zu vereinen. Zwar gibt es keine Garantie, dass die Russen ihre Flugabwehr nicht schnell an Paljanyzja anpassen. „Doch es ist manövrierfähiger Waffentyp, der zu einem ernsthaften Problem werden kann.“

mit dpa